Der sueße Kuss der Luege
Dreißigerjahren dicht an dicht, die Vorgärten sind nur handtuchbreit, aber die Bäume und Hecken sind sehr hoch und dicht und werfen ihre Schatten auf die Häuser.
»Und wie finden wir nun das Haus von Frau Braun? Das haben ihre Kinder sicher längst verkauft oder vermietet.«
»Jan hat mir mal erzählt, dass sie am Ende der Sackgasse gewohnt haben. Wenn Frau Braun ihre Nachbarin war, dann kommen nur zwei Häuser infrage.«
»Und du glaubst, wenn hier eine verwirrte Alte rumrennt, dann bemerkt das niemand?«
Diego sieht mich verzweifelt an. »Keine Ahnung, ich weiß doch auch nicht.«
Und da merke ich, dass er sich immer noch an den letzten Strohhalm klammert, und merkwürdigerweise gibt mir diese Tatsache etwas Kraft.
»Du schaust auf der rechten Seite, ich auf der linken«, entscheide ich und laufe los, ohne mich umzusehen, was Diego von meinem plötzlichen Gesinnungswandel hält.
Die ruhige Straße zieht sich endlos und ich komme mir vor wie auf einem Friedhof. Die winzigen Vorgärten könnten auch Kindergräber sein, Eibenhecken begrenzen die Grundstücke, aus denen gigantische kegelförmige Thujen ragen. Es fehlen nur noch die Grablichter.
Dann stehe ich vor dem Haus, das es sein könnte. Wie alle anderen hat es rechts neben der dunkelbraunen Eingangstür ein vergittertes Klofenster und ein verwittertes Vordach. An diesem hier baumelt eine vertrocknete Blumenampel daran. Bei den anderen blühen die Blumen. Hier sind alle Rollläden heruntergelassen und sie sehen auch so aus, als wären sie seit Jahren nicht mehr bewegt worden. Dieses Vorgartengrab ist voller Laub und toter Nadeln. Und vor der Treppe steht etwas, das meinen Herzschlag beschleunigt. Ein Rollstuhl, genau so einer wie die, die wir vorhin im Eingangsbereich der Efeumühle gesehen haben! Ich haste die bemooste Treppe hoch und lese das ovale Klingelschild aus gelbem Metall.
Braun. Da steht wirklich Familie Braun! Mein Herz fängt jetzt an zu hämmern. Wie es scheint, hat Diego mit seiner Theorie doch recht. Ich rufe nach ihm und er kommt außer Atem angelaufen. »Sieh mal, der Rollstuhl! Das ist ein sehr gutes Zeichen.«
Er sieht mich verständnislos an.
»Warum sollte die Braun einen leeren Rollstuhl aus dem Heim holen und hierher schieben? Doch nur um jemanden zu transportieren, der nicht mehr selbst laufen kann.«
»Und jetzt?«, flüstere ich unwillkürlich.
Diego schaut mich an. »Klingeln?«
»Wenn Frau Braun Angst vor etwas hat und deshalb weggelaufen ist, dann wird sie uns nicht aufmachen. Wir sollten lieber die Polizei rufen.«
Aber Diego ist schon zu dem kleinen Gartentürchen neben dem Haus gegangen und darübergesprungen, was ich ihm in meinem desolaten Zustand nicht nachmachen kann. Ich drücke die Klinke und die Tür geht problemlos auf. Fast hätte ich hysterisch aufgelacht, aber ich kann mich gerade noch zusammenreißen, ich muss weiter durchhalten, es gibt keinen anderen Weg, nicht für jemand, der so viel Schuld auf sich geladen hat wie ich.
Diego ist bereits einmal um das Haus gerannt. »Alle Türen sind zu, alle Rollläden heruntergelassen«, berichtet er. »Wir brauchen doch die Polizei.«
Gerade als ich ihm zustimmen will, fällt mir ein, wie meine Eltern das mit dem Ersatzhausschlüssel handhaben, und Sebi und ich machen es auch so.
»Frau Braun muss doch auch irgendwie ins Haus gekommen sein!«
Nach einem kurzen Stutzen geht über Diegos Gesicht ein Leuchten. »Du bist genial! Natürlich, der Schlüssel ist hier irgendwo deponiert.« Er rennt zurück zum Eingang und schaut sich suchend um. »Vielleicht in der Blumenampel.« Er streckt sich und gräbt mit ausgestrecktem Arm in der Erde, papiertrockene rostbraune Blätter rieseln auf ihn hinunter. Er schüttelt den Kopf. »Nichts.«
Ich bücke mich und sehe unter der Fußmatte nach. Die Sisalmatte ist reichlich vermodert und brüchig und sie zerfällt fast, als wir sie anheben. Leider ist alles, was wir entdecken, das zerdrückte Gehäuse einer Schnecke.
»Aber wenn Frau Braun den Rollstuhl hierhergebracht hat, dann muss sie doch irgendwie ins Haus gekommen sein! Die hat doch bestimmt keinen Schlüssel mehr.«
Wir gehen die Treppe wieder nach unten, ich drehe mich noch einmal um und lasse meinen Blick über die Fassade schweifen. Und da kommt mir noch ein Gedanke, der mich zurückrennen lässt.
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und taste das Fensterbrett von dem vergitterten Klofenster ab, zuerst greife ich nur in eklig wattige Spinnenweben mit
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