Der sueße Kuss der Luege
leuchten tiefe Ringe wie Veilchen. Sie schaut mich nur an, und bevor ich etwas sagen kann, auch nur den leisesten Ton, breitet sie ihre Arme aus und kommt mir entgegen.
»Lu, was musst du durchgemacht haben! Meine arme, liebe, liebste kleine Lu. Lu, ich danke dir, ich danke dir so sehr, dass du Ida das Leben gerettet hast.«
»Aber, aber…« Sie irrt sich, sie hat keine Ahnung!
»Schsch, ich weiß, was du sagen willst, doch es ist jetzt nicht mehr wichtig. Ida ist hier und sie ist stark und sie wird wieder gesund werden. Von Hekigodo gibt es ein Haiku, das es auf den Punkt trifft: Unter dem Himmel des neuen Jahres ist das Meer ganz still. Und heute beginnt mein neues Jahr.«
»Aber…«
»Lu, dich trifft keine Schuld. Nicht die geringste.«
»Oh doch, natürlich ist es meine Schuld. Ich habe diese Kriminellen in euer Leben gebracht und dann habe ich auf dem Spielplatz nicht gut genug auf Ida aufgepasst.«
»Nein, Lu, nein, gutes und böses Schicksal, Glück und Unglück sind wie ein zusammengedrehtes Seil. Es ist unmöglich, das eine ohne das andere zu bekommen. Nein, viel schlimmer ist das, was ich getan habe, obwohl meine Mutter mich immer und immer wieder ermahnt hat.«
Sie lässt mich los, wendet sich um und zeigt auf Ida, die so winzig unter dem Beatmungsgerät aussieht, so winzig zwischen den Schläuchen und Kanülen.
»Yukiko, hat sie gesagt, meine viel geliebte Tochter, wenn man Wunderbares betrachtet, ohne sich zu wundern, schwindet das Wunder von selbst. Verstehst du, Lu, genau das habe ich getan. Obwohl Idas Geburt schon allein ein Wunder war, habe ich sie als etwas Selbstverständliches betrachtet. Aber das wird von nun an nicht mehr passieren.«
Mir ist schwindelig. Yukiko ist Idas Mutter, sie müsste mich hassen, stattdessen tut sie so, als würde ich ihr eine zweite Chance als Mutter geben. Ich ihr!
»Komm, wir wollen uns zusammen zu Ida setzen. Du dort drüben, ich hier. Und ich werde ihr ein japanisches Märchen erzählen.« Sie zwinkert mir mit ihren müden Mandelaugen zu. »Ich weiß schon, dass du sie ihr immer wieder vorgelesen hast, obwohl ich es nicht gut fand. Aber die Bambusprinzessin ist nun mal ihr Lieblingsmärchen.« Sie lächelt. »Ich mochte es nie. Insgeheim war mir Aschenputtel immer lieber. Ich habe, wie meine Mutter sagen würde, ein etwas unjapanisches Faible für westliche Happy Ends.«
Ich möchte mich rechtfertigen, aber sie lässt mich nicht zu Wort kommen.
»Jetzt wollen wir alles tun, um es Ida schön zu machen, denn die Schwestern sagen, man weiß nicht, was sie während des Komas alles in ihrem Unterbewusstsein aufnehmen.« Sie setzt sich zurecht und beginnt. »Als die Erde noch jung war, lebte ein ältliches Ehepaar nahe bei einem Bambuswäldchen…«
Sie hat kaum angefangen, als mein Bruder Christian zur Tür hereinkommt. So habe ich ihn noch nie gesehen, das Gesicht stachlig von rotblonden Bartstoppeln, tiefe Furchen ziehen sich rechts und links von der Nase bis zum Mund. Als er mich neben Idas Bett entdeckt, blitzen seine Augen wütend auf und er befiehlt mir, auf der Stelle mit ihm rauszugehen.
»Nicht, Christian, denk daran, was du mir versprochen hast.« Yukiko wirft mir einen verzeihenden Blick zu, der mir einfach nicht zusteht.
Ich gehe mit Christian raus, wo er mich in eine winzige Raucherzelle am Ende des Ganges zerrt, um mich dann anzubrüllen. Warum ich nicht besser aufgepasst habe, was mir einfällt, was für ein Stück Scheiße ich bin.
Gott sei Dank! Endlich jemand, der mich so behandelt, wie ich es verdiene. Christian ist sowieso ein Riese, baut sich noch drohender vor mir auf, wird sehr verletzend, brüllt fürchterlich laut, aber dann mitten im Satz bricht er in Tränen aus und umarmt mich.
Mein Bruder heult, schluchzt, zittert, das habe ich noch nie gesehen, nicht mal damals, als er sich beim Fußballspielen das Schienbein so gebrochen hat, dass der Knochen quer aus der Haut rausstand und Sebastian sich allein bei dem Anblick übergeben musste.
»Lu, das waren die schlimmsten Stunden meines Lebens, eingesperrt in diesem Flieger am anderen Ende der Welt und nichts tun zu können. Es war schlimmer als die Hölle. Danke, dass du sie uns zurückgebracht hast, dass du ihr das Leben gerettet hast.« Er sucht nach einem Taschentuch, findet es in der Brusttasche seines verknitterten schwarzen Nadelstreifenanzugs, den er seit gestern Morgen nicht ausgezogen hat, und putzt sich die Nase. Nur sehr langsam beruhigt er sich, ich hole ihm ein Glas
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