Der Sumpf: Psychothriller (German Edition)
angesehen, in der Grandpa Diakon gewesen war und Grandma im Chor gesungen hatte. Seit diesem Wochenende hatte sich niemand mehr wegen des Geschirrspülers beschwert.
Ich habe das Ding inzwischen selbst vergessen, stellte Brown fest. Wir alle.
Im Flur, der zu den Zimmern der Mädchen führte, hingen jede Menge Familienfotos. Sein Blick fiel auf sein eigenes Konterfei im Fullback-Trikot, mit einem Football in der Hand. Der schimmernde, elastische Stoff war an den Schulterblättern verschlissen. Die rot-grauen Schuluniformen hat die Schule secondhand aus dem benachbarten weißen Bezirk bekommen. Das verstehen die Mädchen nicht, dachte er. Sie verstehen nicht, wie es sich anfühlt, wenn jede Uniform, die man trägt, jedes Buch, das man in der Bibliothek in die Hand bekommt, jede Bank, die man im Klassenzimmer drückt, vorher von der weißen Highschool ausrangiert worden ist. Er wusste noch genau, wie er zum ersten Mal seinen Helm aus zweiter Hand entgegennahm und einen dunklen Schweißrand an der Innenseite entdeckte. Er hatte die Polsterung befühlt und die Finger an die Nase gehalten, um festzustellen, wonach sie rochen. Bei der Erinnerung schüttelte er den Kopf. Mit dem Krieg wurde für mich alles anders, dachte er. In dem Jahr trat der Civil Rights Act in Kraft. Ein Jahr später, 1965, das Wahlrechtsgesetz. Den ganzen Süden erfasste ein tiefgreifender Wandel. Nach seiner Rückkehr aus dem Militärdienst war er mit einem GI-Stipendium aufs College gegangen, und bei seiner Heimkehr nach Pachoula hatte er festgestellt, dass es die Schule für Schwarze nicht mehr gab. Stattdessen bauten sie gerade an einem riesigen, hässlichen Betonklotz, in den die Bezirks-Highschool einziehen sollte. Auf dem vertrauten alten Sportplatz spross das Unkraut. Er rief sich den Applaus ins Gedächtnis und räumte ein, dass es in seinem Leben zu wenig Siege gegeben hatte.
Vergiss das alles nicht, dachte er. Ihm kam das Schimpfwort in den Sinn, das erst vor wenigen Stunden dem Bruder des Toten herausgerutscht war. Manche Dinge ändern sich nicht.
Er klopfte an die Tür seiner ältesten Tochter. »He, Lisa, raus aus den Federn! Höchste Zeit.« Er drehte sich um und donnerte an die Tür seiner Jüngsten. »Samantha! Beweg dich! Dalli, dalli! Du kommst zu spät zur Schule.«
Als er von drinnen nur wohlige Grunzlaute hörte, schmunzelte er und vergaß für einen Moment Pachoula, das ermordete Mädchen und die beiden Männer, die im Todestrakt eingesessen hatten.
Die nächste halbe Stunde verbrachte Tanny Brown so wie unzählige Väter um diese Zeit in ihrem Vorstadteigenheim: Mit Zureden, Drängen, Mahnen und Fordern bekam er die Kinder, samt Schulaufgaben und Pausendosen, rechtzeitig für den Bus aus dem Haus. Sein Vater hatte sich noch einmal hingelegt, und so war er an diesem Morgen zum ersten Mal allein. Die Sonne flutete ins Zimmer, und er hatte das Gefühl, als sei der Zeitfluss ein wenig durcheinandergeraten. Er fühlte sich wie ein Tier, das auf der Suche nach dem Schutz der Nacht von einem Schatten zum anderen huscht.
Er ließ den Blick durchs Zimmer wandern, bis er bei einer leeren Blumenvase im Regal verweilte, einer hohen, eleganten Vase in Form einer Sanduhr, mit einer Blume unter der Glasur. Bei der Erinnerung, wie seine Frau das Souvenir im Urlaub in Mexiko gekauft und eigenhändig nach Hause getragen hatte, statt es Türstehern, Gepäckträgern oder Portiers anzuvertrauen, schmunzelte er. Kaum waren sie angekommen, hatte sie die Vase auf den Esstisch gestellt und von da an immer mit frischen Sträußen gefüllt. So war sie. Wenn sie etwas wirklich wollte, kannte sie kein Halten. Selbst wenn sie dafür eine alberne Vase mit eigenen Händen nach Hause schleppen musste.
Keine Blumensträuße mehr.
Er dachte daran, wie sie in der Notaufnahme um ihr Leben gerungen hatten, wie die Ärzte und Schwestern ihr bei seiner Ankunft immer noch Adrenalin- und Plasma-Infusionen gaben und versuchten, mit Herzmassage das letzte Fünkchen Leben wieder zu entfachen. Ein einziger Blick hatte ihm gesagt, dass ihre Mühe vergeblich war. Der sichere Instinkt stammte noch aus seiner Zeit im Krieg – er wusste, wann eine unsichtbare Schwelle überschritten war und keine Apparatemedizin der Welt dem Tod ein Schnippchen schlagen konnte. Sie hatten verzweifelt gekämpft, alles gegeben, um sie zu retten. Gerade mal zwanzig Minuten davor war sie eine von ihnen gewesen und hatte in der Notaufnahme dasselbe für andere getan. Zwanzig Minuten, um
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