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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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ein sinnloser Schmetterling, und plötzlich entdeckte ich, dass ich weit weggeflogen war, unter mir war Meer, und ich fing an zu fallen. In diesem Moment stürzte der Lehrer in die Zelle, schrie: ›Wer hat dir das erlaubt? Wie kannst du es wagen?‹ und begann, den in der Ecke mit dem Stock auf den Kopf zu schlagen. Der andere rührte sich nicht, als wäre er eine Tonfigur. Und der Lehrer schlug und schlug, dazu sagte er: ›Untersteh dich! Das ist eine Sünde! Du wirst noch bestraft!‹ Wie wenn er nicht bestrafen, sondern nur schlagen würde. Ich glitt unauffällig zum Fensterchen herein, stellte mich in meine Ecke vor die leere Tasse und schaute demütig nicht zu ihnen rüber. Doch kam es mir vor, als hätte er ein- oder zweimal einen Blick in meine Richtung geworfen. Und den ›anderen‹ schlug er immer blindwütiger. Der tat mir seltsamerweise nicht leid. Da ließ der Lehrer auf einmal vom ›anderen‹ ab, drehte sich zu mir um, heftete nun den Blick auf mich und sagte: ›Bist du zu dir gekommen? Schmerzt es? Schmerz ist nichts.‹ Und ging hinaus.«
    Gummi verstummte wieder. Er war weit weg.
    »Und der Mond?« rief Davin ungeduldig.
    Gummis Wangen bebten, als käme er aus großer Höhe herabgesprungen, und er verzog das Gesicht. Besann sich jedoch und fuhr fort, nun aber irgendwie müde, immer träger gingen ihm die Wörter von der Zunge:
    »Ich kam auf dem Boden zu mir … Grün und blau geschla
gen … In der Tasse war Wasser. Ich trank von dem Wasser …« Und er verstummte.
    »Der Mond!« sagte Davin unerbittlich.
    »Ich flog zu ihm.«
    »Wann?«
    »Gleich danach.«
    »Nachdem Sie von dem Wasser getrunken hatten?«
    »Ja.«
    »Aber wie das? Sie sind doch geschwebt? Das ist doch langsam. Bis zum Mond sind es ungefähr vierhunderttausend Kilometer. Zehnmal rund um die Erde.«
    »Das ist unwichtig«, stieß Gummi mühsam hervor, als ob ihm mit jedem Wort die Zunge anschwellen würde. »Schweben, das ist ein Vergnügen, nur so zum Spaß … Aber man kann auch plötzlich dort landen.«
    Doktor Davin war müde wie Gummis Zunge; als ob er selbst sich mit Mühe bewegen würde in seinem Mund.
    »Und wie ist er, der Mond?« fragte er gelangweilt. Gummis Augen wurden glasig vor Stummheit. Etwas kam direkt auf sie zu, mit Windeseile, und sein Blick zersplitterte. Wie wenn er etwas immer dichter vor sich sähe, dermaßen deutlich, dass es ihm die Sprache verschlug, weil er sich nun nicht erinnerte, sondern – sah. Davin hatte sogar einen Moment den Eindruck, als spiegelte sich etwas auf Gummis Regenbogenhaut, das es vor ihnen gar nicht gab (sie gingen gerade übers Feld), und er schüttelte den Kopf. »Also, wie ist er?« fragte er beharrlich.
    »Braun«, knödelte Gummi mühsam hervor, zusammen mit einer Speichelblase.
    ›Fallsüchtig ist er ja auch!‹ konnte der Doktor gerade noch denken …
    Als Gummi wieder zu sich kam, beugte sich das beunruhigte und schuldbewusste Gesicht Davins über ihn. Er rieb Gummi die Schläfen. Und freute sich so, als Gummi zu sich kam, dass er einschmeichelnd und herzlich lächelte.
    »Um Gottes willen, verzeihen Sie mir, Toni! Ich habe Ihnen mit meiner Fragerei zugesetzt. Ich glaube fest daran, dass Sie damals auf dem Mond waren.«
    Gummi blickte den Doktor liebevoll und nachsichtig an wie ein Kind.
    »Ich war gerade wieder dort«, sagte er und stand aus dem Gras auf.
     
    Davin hatte sich in seinem Arbeitszimmer bloß für einen Moment hingelegt und war weg gewesen. Er wachte auf, weil ihm die Sonne auf die Augen schien; ungewöhnlich frisch und verstört war er, weil er so lange geschlafen hatte. Die Sonne kam nun erst nach fünf, gegen Abend, zu ihm aufs Sofa. Er setzte sich rasch auf, wütend, knarzend und zitternd wie die Stahlfeder, die im Sofa unter ihm zu quengeln anfing. Einen Augenblick saß er, solange ihm vor den Augen fünkchengroße, vertiginöse schwarze Pünktchen taumelten, dann erhob er sich ebenso entschlossen, wie er sich aufgesetzt hatte. Und reckte sich herrisch, dass es knackte. ›Was habe ich da für Unsinn zusammengeträumt? So ein Quatsch. Höchste Zeit, dass ich mich eingehend mit der Natur der Träume befasse, ich träume ja, anstatt zu arbeiten.‹ Er wiegte noch den Kopf, feixte und spöttelte über sich selbst: Nein, was für eine feinfühlige, schöpferische Psyche … die Geliebte abgereist … Gummi … Toni … der Mond … Was für ein Quatsch!‹
    Zielstrebig begab er sich zum Schreibtisch, zu seinem Manuskript über die Natur der

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