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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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Träume. Er mochte den Blick aus dem Fenster, mochte es, der Konzentration halber hinauszuschauen. Er blickte hinaus – vor dem Fenster spaltete jemand Holz. Ah ja, Gummi.
    In der Provinz, zumal in den damaligen Zeiten, findet (fand) alles bald seinen Rhythmus. Was einem heute erstmals begegnet, ist morgen schon bekannt, übermorgen gewohnt und überübermorgen ein Ritual.
    Die Einwohner von Taunus gewöhnten sich daran, diesem merkwürdigen Paar zu begegnen, wie es gegen Tagesende über die Nordchaussee spazierte, bis zur Stadt und zurück. Worüber konnten sie sich bloß so bedeutsam unterhalten? Um Gummi in ihren Augen nicht aufzuwerten, stuften die Taunusser den Doktor herab. Dass der Doktor ebenfalls »nicht ganz dicht«
war, brachte alles ins Lot und ebnete es ein. Überhaupt, was wundert einen noch, wenn sich am Himmel solche Dinger herumtreiben? Und sie deuteten zum Luftschiff hoch. Immerhin wäre zu bedenken, dass die Provinz nicht nur deshalb arm an Ereignissen ist, weil es keine gibt, sondern auch, weil keine gebraucht werden.
    Ebendeshalb tun die seltenen Dinge sich zusammen, ihres Nichtgebrauchs wegen (in den Museen ist es das gleiche Bild). Gummi und der Doktor konnten nicht mehr ohne einander, als ob sie im selben Schaukasten lägen. Dass Gummi Davin seiner Schönheit, seines Verstands und seiner menschlichen Haltung wegen vergötterte, das ist uns verständlich, aber was fand der Doktor an ihm außer einem interessanten klinischen Fall? Der Gedanke drängt sich auf, der fortschrittliche Doktor habe an Gummi humanste Behandlungsmethoden ausprobiert, beispiellos für die Gemütskrankenhospitäler der damaligen Zeit, also Güte, Achtung, Aufmerksamkeit, Vertrauen, Suggerieren von Vollwertigkeitsgefühlen usw. – eine ganze Palette. So sah das wahrscheinlich auch aus und so hätte Davin selbst das gerne gesehen, aber wir erwähnten bereits, dass er einen scharfen Blick hatte und nicht nur andere beobachtete, sondern auch sich selbst, und da, bei diesem Beobachten, fand er die entsprechende Erklärung seiner Verbindung mit Gummi nicht erschöpfend, eine völlige Auflösung des Rätsels schien er jedoch nicht zu finden oder gar zu vermeiden. Die Zuneigung seinerseits einfach mit der Genugtuung über die rechtschaffene Erfüllung seiner ärztlichen Pflicht zu erklären (schließlich gefällt es den Menschen, Gutes zu tun, andernfalls wäre das ja überhaupt nicht vorteilhaft!) und sogar einen gewissen Anteil normaler menschlicher Zuneigung zu einem umsorgten und unschuldigen Halbmenschen (einem Kätzchen, einem Hündchen …) anzunehmen, das wollte beides nicht recht passen. Davin empfand keine Zuneigung zu Gummi, sondern – brauchte ihn. Warum, begriff er selbst nicht. Und er bemühte sich auch, es nicht zu begreifen, denn irgendwie kehrte sich dieser Gedankengang gegen ihn: Während er Gummis Liebe hinnahm, sah er ein, dass er selbst nicht liebte. Dabei, wäre es
nur Gummi gewesen! Aber während er sich im Widerschein von Gummis Liebe sonnte, begann er zu begreifen, dass er nicht liebte, und das prinzipiell, wie man eben niemanden liebt. Also auch Joy nicht … Selbst das hätte ihm nicht gänzlich die Seele vergiftet, hätte er sich nicht außerdem ertappt dabei, dass er bei Joy keine solche Ungleichheit der Gefühle spürte, wie er sie bei Gummi spürte, also, was hieß das nun? dass auch Joy ihn nicht liebte? Dies allerdings missfiel dem genialen Doktor wirklich.
    So dass man nicht meinen sollte, ihr Verhältnis sei wolkenlos gewesen. Wolkenlos war allein Gummi.
    Zudem verliebte sich Gummi in Joy. Anscheinend in sie selbst und nicht in ihr Porträt, wie der Doktor vermutete, da er Gummis Leidenschaft für billige Bildkarten nicht vergessen hatte. Das Photo war bei diesem Besuch Joys entstanden, Joy war gut getroffen, vielmehr, gar nicht gut getroffen. Davin hatte zum erstenmal photographiert, hatte die Schärfentiefe nicht richtig eingestellt, das Bild zu kurz im Entwickler gelassen, und herausgekommen war ein Wunder. Dieser blinkende weiße Fleck der Haare und des Lächelns, die mit dem überstrahlten Laub des Strauchs hinter ihrem Rücken verschmolzen … »Lach nicht! Rühr dich nicht!« Sie aber musste gerade lachen und sich umwenden, und diese Wendung und dieses Lächeln waren erwischt, aber nicht fixiert. Der Augenblick verweilte nicht und war doch wunderschön. Als würde Joy sich gleich ganz umwenden, und dann bräche das Glück an. Denn ihr Gesicht, wie es hier getroffen war, das war

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