Der Täter / Psychothriller
Polizisten flankiert und trug den Overall eines Gefängnisinsassen, doch seine Haltung und seine Statur verrieten den Gefangenen nicht.
»Sie haben diesen Mann gesehen, diesen Iwan den Schrecklichen?«, fragte Rabbi Rubinstein, und Winter nickte. »Sie haben zweifellos bemerkt, nicht wahr, Detective, dass dieser Mann nie gebrochen oder niedergeschmettert gewesen ist? Dass er nie geschlagen wurde, nie fast verhungert ist? Bei uns ist das ein bisschen anders, nicht?«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Nicht, dass wir Überlebenden weniger …, wie soll ich mich ausdrücken, Detective? Ein echter Überlebender ist so unverkennbar gezeichnet, wie ich diese Tätowierung trage.«
Er hielt seinen Unterarm hoch und zog den Ärmel des dunklen Hemds, das er trug, zurück.
»Sehen Sie, wie es mit der Zeit verblasst ist? Aber es befindet sich immer noch da, nicht wahr? Innerlich ergeht es uns genauso. Das alles hat sich uns tief eingebrannt. Im Lauf der Jahre wird es schwächer, doch es ist immer noch da und wird nie ganz verschwinden. Man sieht es daran, wie wir die Schultern tragen, vielleicht sogar in unseren Augen. Ich glaube, das trifft für uns alle zu.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dieser Mann, der Schattenmann, er wird eines sagen, aber etwas anderes denken, es ist nichts Echtes an ihm. Und wenn wir genau genug hinschauen, werden wir das erkennen.«
»Das stimmt«, pflichtete Frieda Kroner im Brustton der Überzeugung bei. Es herrschte kurzes Schweigen, dann fuhr sie im Tonfall einer tüchtigen Sekretärin fort: »Ich kenne Irvings sämtliche Mitgliedschaften. Im Bridge-Club, in den Diskussionszirkeln. Ich kann die Namen der Mitglieder besorgen.«
»Ausgezeichnet. Und Adressen. Und Personenbeschreibungen, falls Sie da rankommen können. Achten Sie auf Einzelheiten. Jede Kleinigkeit könnte uns den entscheidenden Hinweis liefern.«
»Was meinen Sie mit
Einzelheiten?
«, hakte sie nach.
»Er war auch einmal Berliner. Spricht er vielleicht mit einem Akzent, wie Sie, Mrs.Kroner? Das wäre eine Möglichkeit, muss aber nicht sein.«
»Ja, ja, das leuchtet ein. Das kann ich nachvollziehen, aber wie schützen wir uns unterdessen?«
»Ändern Sie Ihre Gewohnheiten. Wenn Sie in den vergangenen zehn Jahren mittwochs um drei Uhr Nachmittag zum Supermarkt gegangen sind, dann gehen Sie von nun an meinetwegen um acht Uhr morgens. Wählen Sie sich eine andere Route als bisher. Wenn Sie zu einem Spaziergang auf die Promenade wollen, gut, aber laufen Sie zuerst zwei Blocks in die entgegengesetzte Richtung und machen Sie dann einen großen Bogen zurück. Wenn Sie einen Besuch vorhaben, rufen Sie zuerst dort an. Geben Sie Bescheid, Sie seien unterwegs. Wenn Sie immer Bus fahren, nehmen Sie sich jetzt ein Taxi. Finden Sie jemanden, der Sie begleitet. Bewegen Sie sich in Gruppen. Zu unvorhersehbaren Zeiten und im Zickzack. Bleiben Sie einen Moment vor verspiegelten Fenstern stehen und beobachten Sie die Leute hinter Ihnen. Drehen Sie sich blitzschnell um und schauen Sie die Straße entlang, auf der Sie gerade gegangen sind. Seien Sie wachsam.«
»Das ist klug«, kommentierte der Rabbi.
»Er könnte sich Ihnen auch als jemand Vertrautes nähern, zum Beispiel als Postbote oder als Lieferant. Trauen Sie keinem. Selbst wenn Sie seit zehn Jahren ins selbe Deli gegangen sind und mittags dasselbe Corned Beef gegessen haben, hören Sie jetzt damit auf! Und vertrauen Sie nicht einmal dem Mann hinter der Theke, auch wenn Sie sein Gesicht schon kennen, seit Sie nach Miami Beach gezogen sind. Denken Sie immer daran: Nichts ist sicher. Hinter allem könnte sich ein Schatten verbergen.«
Frieda Kroner kniff die Augen zusammen, während sie all die Ratschläge erwog.
»Und das rettet uns das Leben?«, fragte sie.
»Möglicherweise. Eine Garantie gibt es nicht. Eine Waffe ist keine Garantie. Ebenso wenig ein Pitbull.«
»Oder die Polizei«, fügte sie bitter hinzu.
»Das ist richtig. Die Polizei klärt Verbrechen auf, die bereits passiert sind. Selten verhindert sie eins.«
»Wir könnten weggehen, einfach die Stadt verlassen«, warf der Rabbi plötzlich ein.
»Für immer?«
»Nein, ich bin jetzt hier zu Hause.«
»Dann halte ich es für besser, dies zu verteidigen.«
»Ja. Hätten wir vor fünfzig, sechzig Jahren so gedacht … nein, lassen wir das lieber. Sorgen wir dafür, dass wir jetzt am Leben bleiben. Heute. In der Nacht. Morgen früh.«
Winter zögerte vor seiner nächsten Bemerkung und beobachtete das Gesicht des
Weitere Kostenlose Bücher