Der Täter / Psychothriller
zu schicken. Auch nicht die Alliierten oder die Russen, die ihn als Kriegsverbrecher verfolgt hätten. Und gewiss nicht die Juden, die er so eifrig auf den Weg in den sicheren Tod geschickt hatte. Wie hatte er also überleben können?
Bei diesen unlösbaren Fragen, die sie bestürmten, schüttelte sie den Kopf.
Er musste, wie all die anderen auch, gestorben sein. Etwas anderes war undenkbar.
Sie sagte sich den Satz immer wieder. Er muss gestorben sein. Er muss gestorben sein. Dann verkürzte sie ihn im Geist und dachte nur noch: Er ist tot. Er ist tot. Er kann nicht am Leben sein. Nicht hier. Nicht in Miami Beach. Nicht inmitten der wenigen Überlebenden.
Einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, ihr würde schlecht.
Sophie Millstein, der die Furcht wie ein monströses Geschöpf im Leib rumorte, stand auf. Die Figuren der Fernsehkomödie lachten alle, und die Zuschauer lachten über sie.
»Leo«, sagte sie laut. Sie ging zum Telefon und wählte hastig die Nummer des Rabbi. Als sie die Ansage des Anrufbeantworters hörte, legte sie auf. Sie sah auf die Armbanduhr und dachte: Noch zu früh für Mr. Silver und Frieda Kroner. Die sind nicht vor Mitternacht zurück. Ihr Finger schwebte über der Tastatur, dann tippte sie Simon Winters Nummer ein. Sie rechnete damit, dass er sofort abnehmen würde, und versuchte, sich zurechtzulegen, was sie sagen sollte, außer dass sie immer noch Angst hätte, doch der einzige Gedanke, den sie fassen konnte, war Simon Winters Revolver, der sie beschützen würde.
Das Telefon klingelte weiter, ohne dass sich jemand meldete. Nach einer Weile schaltete sich das Band ein: »Dies ist der Anschluss von Simon Winter. Nach dem Signalton können Sie eine Nachricht hinterlassen.«
Sie wartete, und sagte nach dem elektronischen Signal:
»Mr.Winter? Sophie Millstein. Ich wollte nur … ach, ich wollte Ihnen nur noch einmal danken. Alles Weitere dann morgen früh.«
Ein wenig erleichtert legte sie auf. Er hat bestimmt ein paar gute Ratschläge, dachte sie. Er ist ein sehr netter Mann, mit einem kühlen Kopf und einer Menge Grips. Vielleicht nicht so viel wie Leo, aber er wird wissen, was zu tun ist.
Sie fragte sich, wo er stecken mochte. Wahrscheinlich war er nur noch ausgegangen, um irgendwo eine Kleinigkeit zu essen. Er wird bald zurück sein. Genau wie Rabbi Rubinstein ist er einfach nur noch mal ausgegangen. Alles ist heute Abend ganz normal. Genau wie an jedem anderen Abend.
Plötzlich musste sie denken: Mr. Herman Stein, wer waren Sie? Wieso haben Sie diesen Brief geschrieben? Wen haben Sie gesehen?
Sie holte tief Luft, doch in einer Woge der Panik kam ihr die unabweisliche Erkenntnis: Ich bin ganz allein.
Im nächsten Moment hielt sie dagegen und schärfte sich ein, dass sie irrte. Schließlich waren die Kadoshs und der alte Finkel über ihr und bald käme sicher auch Simon Winter vom Essen zurück; sie wäre von ihnen allen umgeben, und alles wäre gut.
Sie nickte still, um sich von der Richtigkeit der Feststellung zu überzeugen. Sie trat einen Schritt näher an den Fernseher heran. Nach der Comedy lief nunmehr ein düstereres Drama.
Wer könnte das sonst gewesen sein?, fragte sie sich plötzlich.
Wieder schnappte sie nach Luft. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich, und sie versuchte rasch, die dunklen Ahnungen und Ängste mit fadenscheinigen Argumenten zu betäuben.
Ach was, es kann ein Wildfremder gewesen sein. Ein x-beliebiger alter Mann in Miami Beach – immerhin wimmelt es hier nur so von alten Leuten. Und die sehen auch noch alle gleich aus. Vielleicht hat er dich auch mit jemandem verwechselt, den er kannte, und hat dich deshalb so angestarrt und sich noch einmal aufmerksam umgesehen. Und als er merkte, dass er sich getäuscht hatte, na ja, um einer peinlichen Situation aus dem Weg zu gehen, hat er sich weggeschlichen. So was passiert ständig. Im Laufe seines Lebens begegnete man immerhin Hunderten von Leuten, also ist es nur natürlich, dass man ab und zu für jemand anderen gehalten wird.
Doch sie hatte nicht das Gefühl, dass der Mann sie für jemand anderen gehalten hatte.
Wieso hier?, fragte sie sich.
Keine Ahnung.
Wieso ist er hierhergekommen?
Keine Ahnung.
Was hat er vor?
Keine Ahnung.
Wer ist er?
Auf diese Frage wusste sie die Antwort, doch das wollte sie sich nicht eingestehen.
Sie versuchte, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen, die zwischen den Wänden der kleinen Wohnung hin und her zu springen schienen. Sie beschloss, am nächsten
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