Der Täter / Psychothriller
können, ohne dass sie für ihre Taten im Mindesten zur Verantwortung gezogen worden sind. Das bereitet mir Alpträume.«
Walter Robinson rieb sich mit dem Finger über die Stirn. »Von der Seite hab ich’s noch gar nicht betrachtet.«
»Deshalb ist dieser Job so wichtig, Walter. Wir wünschen uns, dass es ein höheres Gericht gibt. Wir hoffen es, aber vielleicht gibt es das eben nicht, und falls nicht, dann liegt es allein bei uns. Nur bei uns, bei niemandem sonst.«
»Sie sind ein Philosoph, Simon.«
»Natürlich, wie alle alten Leute.«
»Sie laufen tatsächlich irgendwo da draußen rum, wissen Sie. So viel haben wir dazugelernt, seit Sie pensioniert worden sind. Nicht nur ein oder zwei, sondern mehr, als wir zählen können. Perverse jedweder Couleur. Mörder mit unverkennbarer Herangehensweise und einzigartigem Markenzeichen.«
»Aber der hier …« Winter betrachtete das Phantombild. »Der hier ist kein Sittenstrolch oder Perverser oder verkanntes Genie. Er ist weder Bundy noch Gacy noch Charlie Manson. Den treibt was anderes an.«
»Und was wäre das?«
»Hass.«
»Er hasst seine Opfer? Aber er kennt sie doch kaum.«
»O doch, er kennt sie gut. Nicht jeden persönlich, aber das, wofür sie stehen. Vor allem aber hasst er das, was sie für ihn bedeuten. Sie haben eine gemeinsame Vergangenheit. Aber ich möchte wetten, sein Hass geht noch weiter zurück. Und was er eigentlich töten will, ist die Geschichte.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine damit, dass er nie etwas anderes als Zorn gekannt hat.«
Der jüngere Mann beugte sich langsam dem Bild entgegen. »Das leuchtet ein«, sagte er nach einer Weile. »Vielleicht komme ich deshalb nicht mit ihm zu Rande.«
»Inwiefern?«
»Ich kann Perversion nachvollziehen. Ich kann nachvollziehen, dass man einen Rivalen umlegt. Ich kann nachvollziehen, dass man seinen Ehemann erschießt, weil er einen betrügt. Bis jetzt bin ich in der Lage gewesen, so ziemlich jeden nur denkbaren Grund für Mord irgendwie nachzuvollziehen. Doch diesmal nicht. Noch nicht. Und das macht mir zu schaffen, Simon.«
Der alte Detective lächelte. »Ich glaube«, gestand er, »ich habe Sie bis jetzt vielleicht ein bisschen unterschätzt.« Dann kratzte er sich in einer gespielten Geste der Neugier am Kopf. »Falls es tatsächlich das ist, was unseren Mann antreibt, finden Sie dann nicht, wir sollten vielleicht nach der Quelle suchen?«
»Der Quelle für seinen Hass?«
»Genau.«
Winter griff in einen kleinen Rucksack, den er bei sich hatte und der ein paar Bücher sowie seinen Notizblock enthielt. Mit ihm auf der Schulter kam er sich wie der älteste Student auf Erden vor. Er riss ein Blatt ab und reichte es Walter Robinson, der einen Blick darauf warf und dann mit einiger Verwirrung aufsah.
»Was heißt das?«, fragte der Detective. Dann las er stockend:
»Geheime Staatspolizei JFD dreizehn, Abtlg. einhunderteins.«
Er sah Winter an. »Das ist Deutsch, nicht wahr?«
»Richtig«, bestätigte Winter. »Ich vermute, das ist die operative Bezeichnung für den Jüdischen Fahndungsdienst. Da haben die Greifer gearbeitet. Da hat unser Mann seine Ausbildung bekommen und seine Berufung entdeckt. Ich hab auch ein paar Anrufe gemacht, beim Holocaust Center und bei ein oder zwei Historikern. Die haben mir geholfen. Jetzt müssen wir jemanden in Deutschland finden, von dem wir eine Liste mit den Männern erhalten können, die in der Abteilung gearbeitet haben. Denn dort muss irgendjemand noch am Leben sein und sich an den Schattenmann erinnern, und der kennt vielleicht auch seinen Namen. Er mag seinen Namen geändert haben, aber es wäre immerhin ein Anfang.«
Robinson schüttelte den Kopf. »Meinen Sie wirklich, die haben eine Liste der Killer geführt, die für sie tätig waren?«
»Ja. Nein. Könnte sein. Ich sag Ihnen, was ich bisher in Erfahrung gebracht habe. Zum Beispiel, dass die Deutschen über so ziemlich jeden Furz Verzeichnisse und Akten angelegt haben. Immerhin haben sie diese vollkommen verkehrte Welt geschaffen, in der die Gesetze die Schuldigen schützten und die Gerichte in der Hand von Kriminellen waren. Und weil das so bizarr war, musste das mit besessener Gründlichkeit organisiert werden. Organisation bedeutet Papierkram. Sophie hat kurz vor ihrem Tod davon gesprochen, und ich habe nicht richtig hingehört:
›Selbst wenn sie dich ermorden wollten, führten die Nazis darüber Buch.‹
Deshalb denke ich, dass es irgendwo eine Liste mit den Männern gibt, denen
Weitere Kostenlose Bücher