Der Täter / Psychothriller
wiederaufgebaut worden, doch die Teilung in Ost und West habe sich erschwerend ausgewirkt. Das Ergebnis sei ein seltsames Sammelsurium aus Architekturstilen und Epochen. Er lachte und sagte, sie solle sich Miami vor fünfzig Jahren vorstellen.
Der alte Nazi wohnte in einem Reihenhaus außerhalb des Stadtzentrums. Es wirkte ein wenig kleinbürgerlich, fremd, wie die nicht ganz geglückte Nachahmung eines amerikanischen Konzepts. Die Häuser waren einander zum Verwechseln ähnlich: weißer Putz mit dunklen Schieferdächern, gepflegte Gärten und saubere Straßen. Es herrschte ein Ausmaß an Ordnung, das schon wieder ungemütlich wirkte.
Schultz entging ihre Reaktion nicht. »Sie dürfen nicht vergessen, Miss Martinez«, meinte er, »die Deutschen mögen’s gern aufgeräumt. Alles an seinem Platz, alles nach eindeutigen Regeln.« Er hielt vor einem der Häuser. »Da wären wir. Dürfte spannend werden.«
Sie waren noch einige Meter von der Haustür entfernt, als sie langsam geöffnet wurde, und eine beeindruckende Frau auf der Schwelle erschien.
»Miss Wilmschmidt?«
Die Frau nickte. Einen peinlichen Augenblick lang hielt sie die Tür hinter sich halb geschlossen, als sei sie immer noch nicht sicher, ob es richtig sei, diesen Besuch zuzulassen, doch dann schob sie die Tür weit auf und bat sie stumm herein. Sie war groß, Mitte dreißig, doch mit einer schmalen Taille wie ein Fotomodell und üppigem, rotbraunem, gewelltem Haar, das durch die wenigen Silberfäden, die es durchzogen, nur noch vornehmer wirkte. Eine modische Brille baumelte an einer Kette auf eine teure weiße Seidenbluse. Ansonsten offenbarte ihre Kleidung ihre Grundhaltung: ein schokoladenbrauner Rock, dunkle Strümpfe, schwarzer Blazer. Trotz ihrer Eleganz hatte sie etwas von einer altjüngferlichen Bibliothekarin an sich, eine kalte, zugeknöpfte, gereizte Art. Während Espy Martinez und der Verbindungsmann das kleine Haus betraten, sagte die Frau: »Ich wünschte, Sie wären nicht hergekommen, Miss Martinez, ich wünschte, es hätte nicht sein müssen.«
»Ich möchte wirklich nicht aufdringlich sein«, erwiderte Martinez. »Ich weiß jede Hilfe seitens Ihres Vaters außerordentlich zu schätzen …«
»Er ist krank. Ich weiß nicht, wie das auf Englisch heißt, aber er bekommt schwer Luft. Das kommt vom Rauchen. Ich weiß nicht, wie Sie das nennen würden.«
»Emphysem?«
»Ja, vielleicht. Er darf sich nicht aufregen. Das verstehen Sie sicherlich.«
»Natürlich. Wir werden versuchen, es so schonend wie möglich zu machen.«
»Das wäre gut. Ich muss heute Nachmittag wieder in die Bank. Da arbeite ich.«
»Ich fasse mich kurz.«
Die Tochter nickte, obwohl sie ihr offensichtlich nicht glaubte. Im selben Moment kam eine Anordnung auf Deutsch aus dem Innern des Hauses: »Maria, bring sie rein!«
Die Frau zögerte. »Er ist jetzt schon zu aufgeregt«, kommentierte sie.
»Bring sie rein!«
Maria Wilmschmidt deutete mit einer halbherzigen Bewegung in die Richtung der Stimme. Espy Martinez hörte einen qualvollen Hustenanfall, als sie den schmalen Flur des kleinen Dreizimmerhauses durchquerten.
Der alte Nazi lag in einem beengten, stillen Zimmer gekleidet in Pyjama und Morgenmantel auf einem Einzelbett aus Holz. Ein einziges, von dicken weißen Gardinen gerahmtes Fenster ließ graues Tageslicht herein. An den Wänden hingen keine Bilder. Das weitere Mobiliar bestand aus einer mitgenommenen braunen Kommode und einem Nachttisch, der von Tablettendöschen überquoll, dazwischen thronte ein Wasserkrug. Eine hohe Sauerstoffflasche mit einer hellgrünen Maske stand neben dem Krankenlager. In einer Ecke lief ohne Ton der Fernseher. Der alte Mann hatte Widerholungen amerikanischer Serien gesehen. In einer Ecke lag ein Haufen Taschenbücher und Zeitschriften, als hätte er sie dort hingeworfen.
»Mr.Wilmschmidt, ich bin Espy Martinez …«
Sie sah die bläuliche Verfärbung an seiner Nase und die geröteten Wangen, die vom Sauerstoffmangel in den Kapillargefäßen zeugten. Er röchelte schwer, als er sie ins Zimmer winkte. Sie registrierte seine großen Hände mit den langen, aristokratischen Fingern, deren Nägel gelb verfärbt waren. Sie erkannte, dass er früher einmal ein schwerer, dicker Mann gewesen sein musste, den jedoch die Krankheit, die ihm den Atem raubte, von innen her aufgezehrt hatte, so dass ihm die schlaffe, faltige Haut an den Knochen hing.
»Maria, bring Stühle für die Gäste!«, keuchte er auf Deutsch.
Als die Tochter
Weitere Kostenlose Bücher