Der Täter / Psychothriller
brauchten.
Als ihr bewusst wurde, wie spät es war, machte sie sich daran, eine Liste von Fragen zu entwerfen, die sie dem alten Mann stellen wollte, dessentwegen sie diesen weiten Weg auf sich genommen hatte. Sie verstand nicht, dass sie gewissermaßen dabei war, an die Geschichte eines Alptraums zu rühren. Simon Winter hätte es gewusst, und der Rabbi ebenso wie Frieda Kroner. Walter Robinson hätte es vielleicht geahnt, doch in dem Moment, da ihre Maschine zum Landeanflug auf den Berliner Flughafen ansetzte, kämpfte er in einem sterilen Obduktionssaal im Gerichtsmedizinischen Institut des Dade County gegen die Übelkeit an, während er dem Arzt dabei zusah, wie er jeden der zahllosen Schnitte in Leroy Jeffersons Körper sorgfältig dokumentierte. Mit jeder Wunde, die auf einem Formular verzeichnet wurde, machte Walter Robinson sich klar, dass er spätestens jetzt den Mann, hinter dem er her war, nicht mehr unterschätzen konnte.
In einer Wechselstube innerhalb der Flughalle tauschte Espy Martinez ein wenig Geld ein und nahm dann ein Taxi zum Hotel Hilton. Sie wies die Rezeption an, sie um acht Uhr morgens – eine Stunde vor dem verabredeten Treffen mit dem Polizeikontaktmann aus Bonn – zu wecken.
Bevor sie ins Bett kroch, sah sie aus dem Fenster ihres Zimmers. Vor ihr lag eine moderne Stadt unter dem nächtlichen Himmel. Sie fühlte sich nicht allzu weit von zu Hause entfernt.
Timothy Schultz wartete bereits in der Hotellobby auf sie. Er war ein untersetzter Mann, etwa Mitte fünfzig, mit Bürstenhaarschnitt und einem angenehmen Südstaatenakzent. Kaum stieg sie aus dem Fahrstuhl, erhob er sich aus seinem Polstersessel und kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu.
»Also, echt, Miss Martinez«, freute er sich, »wirklich nett, jemanden aus dem wundervollen Florida zu sehen, selbst wenn Sie vom falschen Ende kommen.«
»Freut mich auch, Sie kennenzulernen, Mr. Schultz. Ich möchte Ihnen nochmals für all Ihre Mühe danken.«
»Keine Ursache. Außerdem verbringe ich die meiste Zeit mit Anfragen zu Terroristen und internationalen Juwelendieben und der ganzen Palette an Wirtschaftskriminalität. Muss also zugeben, dass Ihre Bitte um einiges interessanter war als das Übliche, was das Faxgerät so ausspuckt. Hätte ich mir um nichts in der Welt entgehen lassen.«
»Die Tochter hat gesagt, sie würde für mich übersetzen …«
»In dem Fall halte ich mich nur als zusätzliche Hilfe bereit.«
Espy Martinez nickte. Sie hatte den Mund schon halb zu einer Frage geöffnet, doch der Polizeiverbindungsmann nahm ihr das Wort aus dem Mund.
»Ich weiß, ich weiß. Ich weiß, was Sie denken. Wie konnte es diesen Jungen aus dem guten alten Süden, aus dem schönen Pensacola, hierher verschlagen, und dabei klingt er nicht so, als beherrschte er auch nur ein einziges Wort der Landessprache, stimmt’s, Miss Martinez?«
»Nun ja, der Gedanke kam mir.«
»Nicht allzu kompliziert. Meine Großeltern waren beide deutsche Immigranten, und ich bin in ihrem Haus aufgewachsen, weil mein Daddy abgehauen ist, als ich noch klein war. Die alten Leute haben weiter ihre Sprache gesprochen, also habe ich sie als Kind gelernt. So einfach ist das.«
Sie durchquerten die Lobby.
»Soll ich Ihnen ein bisschen die Stadt zeigen, Miss Martinez? Oder haben Sie es eilig, mit dem alten Knaben zu sprechen, bevor es sich seine Tochter anders überlegt?«
»Mr. Schultz, ich bin nicht als Touristin hergekommen.«
Er nickte und zuckte mit den Achseln. »Ich könnte mir denken, dass Sie eine andere Art von Führung bekommen«, meinte er.
Sie bahnten sich ihren Weg durch die Stadt, und obwohl Espy Martinez im Stillen versuchte, sich auf das bevorstehende Gespräch zu konzentrieren, zeigte ihr Mr.Schultz unterwegs die Sehenswürdigkeiten und erzählte, was es dazu Interessantes zu berichten gab. Wo die Mauer einmal gestanden hatte, die Namen der Parks, Gebäude, einen Fluss. Ab und zu rührte eine Bemerkung von ihm an etwas, das sie schon einmal gehört hatte, und sie sah auf. Er fuhr sie an der Adresse des Jüdischen Fahndungsdienstes in der Iranischen Straße vorbei, doch das Gebäude war einem modernen Bürokomplex gewichen. Schultz erzählte ihr, dass Berlin wie viele europäische Städte mehr Leben als die sprichwörtliche Katze hätte; jahrhundertelange Bautätigkeit hatte es zu einer alten, ehrwürdigen Stadt gemacht, doch der Bombenkrieg hatte sie in eine Ruinenwüste verwandelt. Zwar sei in den fünfzig Jahren danach vieles
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