Der Täter / Psychothriller
gegriffen hätte, in dem der Schattenmann auf ihn losgegangen wäre. Hätte ich es geschafft?, fragte er sich.
Wohl eher nicht.
Hätte er auch einen Cop getötet?
Die Antwort lautete: Ja. Der Schattenmann gab wahrscheinlich keinen feuchten Kehricht auf die üblichen Konventionen der Kriminalität, wonach es ein bedeutend schwereres Verbrechen war, einen Polizisten zu ermorden, als einen mit Drogen dealenden Zeugen der Anklage auszulöschen.
Er wird jeden töten, den er als Bedrohung empfindet.
Robinson schauderte unwillkürlich, dann spähte er verstohlen zu den Kollegen hinüber, um zu sehen, ob jemand das Zucken in seinen Schultern mitbekommen hatte. Sein Blick traf sich mit dem von Sergeant Lion-Man; eine Sekunde lang sahen sich die beiden an, und der bullige Polizist nickte verständnisvoll. Robinson holte heftig Luft und sah im gleichen Augenblick, wie der Gerichtsmediziner sich tiefer über die Leiche beugte.
Einem der anderen Ermittler war das ebenfalls aufgefallen. »Was ist so interessant, Doc?«, rief er.
Der Mediziner war ein zierlicher Mann mit feinen Zügen und einer kahlen Stelle auf dem Kopf, die von Schweißperlen glänzte. Manchmal pfiff er während der Untersuchung eines Toten vor sich hin, was im Morddezernat immer wieder für Erheiterung sorgte.
»Ich hab mir nur dieses Klebeband auf dem Mund des Opfers angesehen«, antwortete er. »Höchst seltsam.«
»Was ist so seltsam daran?«, fragte der Detective. Die anderen Männer hielten bei der Arbeit inne und blickten in seine Richtung.
»Na ja, ich verstehe nicht, wieso da so viel Blut verkrustet ist – da und da. Sehen Sie, wenn der Mörder ihm das Band auf den Mund klebt, um ihn zum Schweigen zu bringen, und ihm dann die Kehle aufschlitzt, damit er ertrinkt, also, dann wäre das ganze Blut da, wo auch das meiste tatsächlich ist. Es wäre keins an seinem Mund. Wegen der Schwerkraft. Flüssigkeiten fließen nun mal nach unten.«
»Und? Was wollen Sie damit sagen?«, hörte Walter Robinson jemanden fragen.
»Ich will damit sagen, dass dieses Blut woanders herkommen muss.«
»Vielleicht hat er ihn geschlagen, bevor er ihm das Band drübergeklebt hat?«
»Möglich. Aber es gibt keine anderen äußeren Anzeichen für Schläge. Er hat nur mit dem Messer gearbeitet.«
Der Gerichtsmediziner pfiff einen Moment lang eine Melodie, die vage an einen Song aus einem Broadway-Musical erinnerte. Dann streckte er die Hand aus und legte die Finger um den Rand des Klebebands.
»Kann einfach nicht abwarten«, meinte er ruhig. »Konnte ich noch nie, selbst als Kind. Zum Geburtstag. Weihnachten. Musste immer ums Verrecken sehen, was in den Päckchen steckte.« Während er das sagte, riss er dem Toten das Band von den Lippen. Das geschah mit einem saugenden Geräusch.
Die anderen Männer drehten sich um und sahen hinüber. Einen Moment lang verstellte der Gerichtsmediziner Walter Robinson den Blick.
»Da hol mich doch der Teufel.« Der Arzt trat zurück. »Na ja, ich denke, man kann wohl mit einiger Sicherheit behaupten, dass jemand über den Konversationsstil des Opfers ungehalten war.«
Der Arzt drehte sich zu Walter Robinson um. In der Hand hielt er Leroy Jeffersons Zunge. Sie war ihm an der Wurzel herausgeschnitten worden.
Als Espy Martinez endlich in dem Flugzeug saß, das sie von London nach Berlin bringen sollte, war sie zwischen der Erschöpfung von der langen Reise und der Aufregung aufgrund ihrer wichtigen Mission hin- und hergerissen. In ihren Tagträumen genoss sie den Erfolg – die Gratulation der Kollegen im Büro ebenso wie die Schlagzeilen in der Presse. Sie sah sich im Geiste mit Walter Robinson im Glück und in der öffentlichen Anerkennung vereint und hoffte, dass ein solch spektakulärer Triumph ihr die Gelegenheit verschaffte, ihn ihren unwilligen, ewig gestrigen Eltern aufzuzwingen und ihre Vorurteile zu besiegen.
Der Schattenmann war für sie nicht viel mehr als ein Mittel zum Zweck ihres beruflichen Aufstiegs. Ihre Ambitionen in der Liebe und im Beruf waren das Einzige, worauf sie sich noch konzentrieren konnte, als draußen die Triebwerke aufheulten und sie in den europäischen Nachthimmel glitt. Dass sie Tausende Meilen von daheim und von ihrem Fall entfernt war, kümmerte sie nicht. Sie sah nichts Außergewöhnliches in ihrem Reiseziel, sondern nur einen Zeugen, den sie zu befragen hatte und der ihr möglicherweise einen Namen liefern konnte – das entscheidende Puzzleteil, das sie und Walter Robinson noch
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