Der Täter / Psychothriller
erinnerte.
»Der Major wusste etwas. Dass er anders war. Ich sah den Jungen nur dort sitzen. Er war wie ein Arbeiter gekleidet, schwere Stiefel, Wollhose und Jacke. Er hatte sich die Mütze tief in die Stirn gezogen, also war es schwer, sein Gesicht zu erkennen. Der Major sagt zu mir: ›Dieser Jude wird uns helfen. Er wird andere Juden für uns fangen …‹, und ich salutiere. Damit habe ich gerechnet. Aber was dann kommt, ist ungewöhnlich, denn der Major wendet sich an den Juden und sagt: ›Willem, Sie sind doch Jude, nicht wahr?‹ Als ob er sich lustig machen wollte. Und dieser Junge, er ist vielleicht neunzehn, zwanzig Jahre alt, der macht ein Gesicht wie ein wildes Tier im Zoo. Rasend vor Wut scheint er sich gegen die Gefangenschaft aufzubäumen. Im nächsten Moment antwortet er: ›Jawoll, Herr Major, ich bin Jude!‹ Der Major dreht sich zu mir um und meint lachend: ›Willem hat nicht viel jüdisches Blut, nur ein klitzekleines bisschen. Wie viel genau, Willem?‹ Und der Junge antwortet: ›Meine verfluchte Großmutter.‹«
Der alte Mann sah Espy Martinez an.
»Sie sind eine Frau des Gesetzes, nicht wahr?«
»Ja. Ich bin Anwältin und vertrete den Staat …«
»Ihr habt keine Gesetze, wie wir sie hatten! Die Rassengesetze!« Er lachte. »Armer Schattenmann! Eine halbjüdische Großmutter, die bei ihrer Vermählung vor dem Ersten Weltkrieg ihre Religion aufgegeben hatte. Die schon tot war, als er zur Welt kam. Welch ein Aberwitz, finden Sie nicht, Miss Martinez? Das Blut dieser Frau, die er nie kennengelernt hatte, floss zu einem kleinen Anteil in seinen Adern, und aus diesem Grund sollte er sterben. Ist das nicht ein Aberwitz? Kommt das Ihnen nicht auch so vor, als machte sich der Teufel über den armen Schattenmann lustig?«
Er schwieg, als erwarte er eine Antwort, doch sie erwiderte nichts, und so fuhr er fort.
»Der Major dreht sich also wieder zu mir um und sagt: ›Dieser Junge kann sich bei uns sehr nützlich machen. Er wird Juden für uns finden. Und er wird noch andere Aufgaben übernehmen. Für mich, nicht wahr, Willem?‹ Und der Junge antwortet: ›Jawoll, Herr Major.‹ Ich weiß es nicht, aber ich vermute, der Major kennt den Jungen, hat schon mit ihm Erfahrungen gemacht. Ich frage nicht danach, denn ich erhalte meine Befehle vom Major: Ich soll den jungen Willem ausbilden: Beschattung. Verfolgung. An der Waffe. Ermittlungsmethoden. Sogar ein bisschen Chiffriertechnik. Und Fälschung – dabei stellt er sich sehr geschickt an. Der Junge soll das Geschäft der Gestapo lernen! Ein Jude! Also bringe ich es ihm bei. Und wissen Sie was, Miss Martinez? Einen gelehrigeren Schüler als ihn kann man sich nicht denken!«
»Inwiefern?«
»Weil ihm die ganze Zeit klar ist, dass er im nächsten Güterzug sitzen kann. Und weil er so abgründig und inbrünstig hasst.«
»Der Major, wieso hat er …«
»Weil der Major ein gescheiter Mann war. Ein brillanter Mann! Bis heute salutiere ich innerlich, wenn ich an ihn denke. Er wusste, dass es seine Aufgabe war, Juden zu finden. Aber er wusste ebenso, dass es nützlich für ihn sein würde, jederzeit auf einen Mann wie den Schattenmann zurückgreifen zu können, der für jede Aufgabe, egal welche, bestens geschult ist. Wollten Sie ein Dokument stehlen, einen Rivalen ermorden lassen? Wer wäre besser dafür geeignet, jede beliebige, kleine, tödliche Aufgabe zu erfüllen, als der Schattenmann? Denn, Miss Martinez – er war schon so gut wie tot! Das waren alle Juden, und er wusste, dass er nur wegen seiner besonderen Fähigkeiten noch am Leben war.«
Wieder lächelte der alte Nazi.
»Wir waren zusammen Mörder, Miss Martinez. Er und ich. Schüler und Lehrer. Aber er war mir weit überlegen …« Der Mann im Bett strich sich mit der Hand über die Stirn. »Ich hatte Schuldgefühle, er nicht.«
Wieder schwieg er.
»Er war unser perfekter Mörder, und da ist noch was, Miss Martinez.«
»Was?«
»Der Schattenmann genoss seine Arbeit. In seinem Hass genoss er es, den Tod zu bringen. Besonders den Menschen, die für seine eigene jüdische Herkunft büßen sollten.«
»Was ist damals aus ihm geworden?«
Klaus Wilmschmidt nickte. »Er war schlau. Gut im Stehlen. Er nahm sich Diamanten, Gold, Juwelen, was auch immer, von den Menschen, die er fand. Dann schickte er sie in den Tod. Sehen Sie, Miss Martinez, er wusste ganz genau, dass seine eigene Existenz von seiner Fähigkeit abhing, Juden aufzuspüren und die wichtigsten Sonderaufgaben zu
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