Der Täter / Psychothriller
Stattdessen trat Winter langsam an den Straßenrand und suchte neben einem Haus – nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der vor kurzem der Schattenmann gestanden hatte, auch wenn er dies nicht wusste – seinen eigenen Schatten. Er brauchte einen Aussichtsposten, von dem aus er die ganze Szene überschauen konnte. Das Panorama aus Löschzügen und Feuerwehrleuten, Polizisten und Männern vom Rettungsdienst wurde ihm von hier aus wie auf dem Tablett serviert. Doch sein Augenmerk galt den Leuten, die aus dem Gebäude gekommen waren, von den Rettungskräften und ihrer Ausrüstung an die Seite des Gebäudes abgedrängt wurden und nervös von einem Bein aufs andere traten.
Das Schrillen in den Fluren dauerte an. Espy Martinez drehte sich zu den beiden alten Leuten um, doch Frieda Kroner stand auf.
»Wir müssen vorbereitet sein«, erklärte sie.
Doch bevor sie einen Schritt machen konnte, gingen plötzlich die Lichter in der Wohnung aus, so dass der Raum in völligem Dunkel lag.
Espy Martinez schnappte nach Luft, und die beiden alten Menschen schrien auf.
»Bleiben Sie ruhig!«, brüllte der Rabbi. »Wo sind Sie, Frieda?«
»Hier«, meldete sie sich. »Hier, Rabbi, bei Ihnen.«
»Miss Martinez?«
»Hier, Rabbi, oh, mein Gott, das ist entsetzlich. Wieso brennt kein Licht?«
»Also gut«, sagte der alte Mann mit fester Stimme. »Das sieht ihm ähnlich. Er ist ein Mann der Dunkelheit. Das ist uns nicht neu. Er wird jeden Augenblick hier sein. Frieda?«
»Ich bin bereit, Rabbi.«
Alle drei standen in der Mitte des Zimmers und lauschten, ob außer dem Alarm noch etwas anderes zu hören war. Kurz darauf heulten von ferne Sirenen auf und kamen näher. Im selben Moment drang ein stechender Geruch ins Zimmer, der nichts Gutes verhieß.
»Rauch!«, brachte Espy Martinez keuchend hervor.
»Verhalten Sie sich ruhig!«, befahl der Rabbi.
»Ich bin ruhig«, entgegnete Frieda Kroner. »Aber wir müssen gewappnet sein.«
Ihre Stimme schien durchs Zimmer zu wandern, und Espy Martinez hörte, wie sie in die Küche verschwand. Es war das Öffnen und Schließen von Schubladen zu hören, dann Schritte, als sie wiederkam. Fast zur selben Zeit schien der Rabbi durchs Zimmer zu tappen, und Espy hörte, wie eine Schreibtischschublade aufgezogen und zugestoßen wurde.
»Also gut«, meinte der Rabbi. »Warten wir auf die Rückkehr des Polizisten.«
Der Rauchgeruch war zwar nicht stark, zog aber immer noch durch den Raum.
»Geduld«, mahnte der Rabbi.
»Kraft«, erwiderte Frieda Kroner.
Espy Martinez hatte das Gefühl, als hüllte sie die Dunkelheit wie ein Friedhofsnebel ein. Sie versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen, doch langsam, aber sicher merkte sie, wie Panik in ihr aufstieg und sie immer stärker erfasste. Ihr Atem kam in kurzen, heftigen Stößen, als bekäme sie nicht genug Luft und wollte sich wie eine Ertrinkende an die Oberfläche strampeln. In diesem Moment wusste sie nicht, was sie am meisten fürchtete: die Nacht oder das Feuer, das irgendwo im Gebäude ausgebrochen war, oder den Mann, der, wie die alten Leute sagten, unaufhaltsam näher kam. Das alles vermischte sich in Espy Martinez’ Phantasie mit den alten, verdrängten Ängsten, und so stand sie stockstill in dem schwarzen Raum und hatte das Gefühl, in einer schrecklichen Zentrifuge herumgeschleudert zu werden.
Sie hustete und würgte.
Dann hörte sie ein anderes Geräusch, gedämpft, aus der Nähe, aber noch nicht direkt bei ihnen, ein energisches Klopfen.
»Was ist das?«, krächzte sie.
»Keine Ahnung«, antwortete der Rabbi. »Still!«
Das Klopfen schien von den Wänden des Zimmers widerzuhallen. Dann hörten sie eine laute, fordernde Stimme: »Feuerwehr Miami Beach! Noch jemand da drinnen?«
Das Klopfen ging weiter und kam zusammen mit der Stimme näher. Espy Martinez begriff sofort, dass es ein Feuerwehrmann war, der den ganzen Flur entlang an jede Wohnungstür schlug, um herauszufinden, ob noch jemand zurückgeblieben war.
»Es ist ein Feuerwehrmann«, sagte sie laut. »Der holt uns raus! Der sucht nach uns!«
Und bevor einer der beiden anderen reagieren konnte, sprang sie so schnell durchs Zimmer, dass sie im Dunkeln über ein im Wege stehendes Möbelstück stolperte. Sie packte die Klinke und riss die Tür auf, während hinter ihr der Rabbi und Frieda Kroner »Nein! Nicht!« schrien.
Sie hörte die beiden nicht, sondern rief an der sperrangelweit geöffneten Tür: »Hier! Hier! Wir brauchen Hilfe!«
In der Dunkelheit vernahm
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