Der Täter / Psychothriller
sie ganz in ihrer Nähe die Stimme eines Mannes, und nur schemenhaft erkannte sie eine Gestalt, die auf sie zukam.
»Wer ist da noch alles?«
»Ich«, erwiderte sie, »und der Rabbi und …«
Der Schlag traf sie auf der Schulter und am Kinn, und zwar mit solcher Wucht, dass sie beinahe das Bewusstsein verloren hätte und herumgeschleudert wurde. Halb schreiend, halb stöhnend stürzte sie rücklings in die Wohnung. Sie wurde zwar nicht ohnmächtig, merkte jedoch, dass sie nicht mehr klar zu denken vermochte. Erst nach mehreren Sekunden nahm sie wahr, dass sie am Boden lag und dass eine Gestalt über ihr stand. Ein Lichtstrahl blitzte durchs Zimmer, und in ihrer Benommenheit sah sie, dass der Rabbi eine Taschenlampe auf sie richtete. Sie erkannte auch, dass der Mann, der sich über sie beugte, ein Messer in der Hand hielt und in dem Moment, als der Rabbi ihn mit dem Lichtstrahl im Gesicht traf, dabei war, damit auf sie niederzustoßen. Für den Augenblick geblendet, änderte er die Richtung, und sie spürte, wie die Klinge dicht über ihr durch die Luft schnitt.
Der Schattenmann richtete sich auf und hob zum Schutz gegen das Licht den Arm, so dass er Frieda Kroner nicht sehen konnte, die zu der Stelle gesprungen war, an der Espy Martinez am Boden lag, und die mit einem lauten Ächzen einen schweren, seltsam geformten schwarzen Gegenstand schwang. Mit einem dumpfen metallenen Scheppern ging der Gegenstand auf dem Arm des Schattenmannes nieder, und er schrie vor Schmerz auf.
Die alte Frau brüllte in ihrer Muttersprache: »Nein! Nein! Diesmal nicht!« Mit diesen Worten schwang sie ihre Waffe erneut und traf zum zweiten Mal auf Fleisch.
Der Lichtstrahl in der Hand des Rabbi wackelte und flackerte durch den Raum, als er aus der entgegengesetzten Richtung ebenfalls auf den Schattenmann zusprang. So wurde der Angreifer über der gestürzten jungen Frau in die Zange genommen. In der freien Hand hielt der Rabbi eine große Menora aus Messing, die mit einem leisen Pfeifen auf den Gegner niedersauste. Sein erster Schlag traf den Schattenmann an der Schulter, und der Rabbi stieß vor Anstrengung einen inbrünstigen, unartikulierten Schlachtruf aus.
Die Taschenlampe fiel zu Boden, und für eine Sekunde sah Espy Martinez, wie der Rabbi in der Haltung eines Baseball-Schlagmanns dastand und zum zweiten Mal ausholte.
Benommen drehte sie sich um und versuchte, auf die Füße zu kommen, doch im selben Moment traf sie ein heftiger Tritt des Schattenmannes gegen die Brust. Zuerst glaubte sie, er hätte sie erstochen.
Für eine Sekunde dachte sie, sie sei tot. Dann unternahm sie einen zweiten Versuch, aufzustehen, und horchte auf Geräusche jenseits der kehligen Schreie von Frieda Kroner. Endlich meldete sich der Rabbi ruhig, aber wie der Gewinner eines schwierigen Rennens mit keuchendem Atem: »Er ist weg!«
Und sie erkannte, dass es stimmte.
Sie hatte das Gefühl, als sei es plötzlich vollkommen still, obwohl in Wahrheit immer noch Sirenen heulten und der Feueralarm schrillte.
Im Dunkeln drehte sie sich zu Frieda Kroner um, die auf Deutsch mit ihr sprach: »Können Sie mich hören? Sind Sie verletzt? Haben Sie Schmerzen?«
Seltsamerweise glaubte sie, jedes Wort zu verstehen, und antwortete: »Nein, nein, alles in Ordnung, Mrs.Kroner. Womit haben Sie ihn eigentlich geschlagen?«
Die alte Frau musste auf einmal lachen. »Mit dem eisernen Teekessel des Rabbi.«
Der Rabbi hob seine Taschenlampe auf und leuchtete ihr damit ins Gesicht. Espy Martinez vermutete, dass sie alle blass aussahen, als hätte der Tod, nachdem er ihnen so nahe gekommen war, ein wenig von seiner Farbe zurückgelassen, doch zumindest Frieda Kroner stand der wilde Triumph einer Walküre ins Gesicht geschrieben.
»Er ist weggerannt! Der Feigling!« Dann stockte sie und stellte in viel ruhigerem Ton fest: »Wahrscheinlich hat sich noch nie jemand gewehrt …«
Der Rabbi dagegen kam gleich zur Sache: »Wir müssen ihn schnappen! Jetzt! Das ist unsere Chance!«
Espy Martinez riss sich zusammen und nickte. Sie nahm die Taschenlampe und sagte: »Sie haben recht, Rabbi. Folgen Sie mir.«
Sie packte beide am Arm und führte sie in den Flur, wo sie – wie ein Pilot im Nebel – in der Dunkelheit nach der Treppe suchte.
Walter Robinson kämpfte gegen eine ungewohnte Panik an, als er in völliger Dunkelheit tastend die Fluchttreppe hinaufzurennen begann. Trotz der fernen Sirenen und des unaufhörlich schrillenden Alarms hörte er seinen keuchenden
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