Der Täter / Psychothriller
plötzlich höre ein Schrei, eher ein Angstschrei, urplötzlich, kann nicht sagen, woher, aber als ich mir recht überlege, ich denke, es ist die arme Mrs.Millstein, und ich denke, sie hat vielleicht Alptraum, sie schläft nicht mehr so gut, und manchmal höre ich, wie sie ruft: Leo, möge er in Frieden ruhen. Also denke ich mir nicht allzu viel dabei, aber mein Henry, der kommt rein und sagt: ›Hast du das gehört?‹, und ich sage natürlich: ›Ja.‹ Und er sagt sofort: ›Sollten vielleicht besser mal nach Mrs.Millstein sehen.‹«
»Stimmt«, murmelte Mr.Kadosh. »Sollten mal nach Mrs.Millstein sehen.«
Simon Winter hätte sie gerne gedrängt, ein bisschen zügiger zu erzählen, doch er wusste, dass die Kadoshs aus Ungarn stammten – Henry hatte einmal Henrik geheißen –, und die Mischung aus ihrem betagten Alter und ihrem unbeholfenen Englisch duldete keine Drängelei. Darum nickte er nur.
»Also, mein Henry geht und findet seine Hausschuhe, und dann findet sein Morgenmantel und geht in Küche und findet die Taschenlampe. Dann geht er nach nebenan und klopft fest, damit der alte Finkel mitkommt …«
Mr.Finkel nickte zur Bekräftigung. »Das stimmt«, verkündete er.
Mrs.Kadosh warf ihm einen kurzen Blick zu, als wollte sie sagen, schlimm genug, dass ihr Mann sie ständig unterbreche, doch ihr Nachbar möge gefälligst warten, bis er an der Reihe sei. Dann fuhr sie fort: »Also, Finkel hat natürlich sein Hörgerät raus, also hört nix, versteht nix, aber er zieht sich auch was über, und sie gehen runter und klopfen bei Mrs.Millstein an die Tür. Keine Antwort. ›Mrs.Millstein, Mrs.Millstein, alles in Ordnung bei Ihnen?‹ Aber nichts. Also schlurfen Henry und Mr.Finkel wieder die Treppe hoch, und er sagt zu mir: ›Was sollen wir machen? Sie meldet sich nicht.‹ Ich sag ihnen, sie sollen ums Haus zur Hintertür und da reinschauen, also sie gehen zurück und machen. Und wissen Sie was?«
»Die Terrassentür ist aufgebrochen. Einfach rausgezogen«, warf Henry Kadosh ein.
»Also«, nahm Mrs.Kadosh ihren Faden wieder auf, »Henry und Finkel kommen zur Wohnungstür zurückgerannt, wo ich warte, und rufen: ›Maria, Maria, Polizei holen, Notruf, sofort!‹ Und währenddessen wir hören noch ein Geräusch, von weiter hinten. Das kommt von Terrasse. Wir alle rennen ums Haus herum, und Henry, er sieht noch gerade …«
»Ist nicht Katze oder Hund im Müll, sondern Nigger, der aus Mrs.Millsteins Wohnung rennt!«
Mrs.Kadosh schüttelte den Kopf. »Henry, er jagt den Mann bis auf die Gasse, und der alte Finkel und ich, wir stecken Kopf zur Tür herein. Und drinnen ist arme Mrs.Millstein. Tot gemordet.«
Winter drehte sich alles im Kopf, und er merkte, wie es ihm heiß die Kehle hochstieg. Der junge Streifenpolizist tippte ihn auf die Schulter, und Winter drehte sich zu ihm um.
»Kommen Sie, Senior. Jetzt wissen Sie ja, was passiert ist. Wollen Sie immer noch mit einem Detective sprechen?«
»Ja«, antwortete Winter. »Das Opfer …« Er kam ins Stottern: das Opfer und wie weiter?
Eine vollkommen haarsträubende Gleichung wirbelte ihm durch den Kopf: Eine alte Frau steht bei dir vor der Tür, weil sie Angst hat, ermordet zu werden. Und dann
wird
sie ermordet, aber von jemand ganz und gar Unerwartetem?
Er glaubte, dass er Zeit zum Nachdenken brauchte, wurde sich dann aber bewusst, wie er hinter dem jungen Polizisten hertappte, der ihn zu Sophie Millsteins Wohnung führte. Sie kamen an dem Posaunenengel vorbei. Die Figur wurde alle paar Sekunden von einem roten Lichtstrahl erfasst, so dass sie in Blut zu baden schien. Er blieb an der Schwelle stehen und starrte auf das geschäftige Treiben, das die Wohnung mit Energie aufzuladen schien. Er sah, wie ein Mann mit einem Forensikkoffer die Küche bearbeitete. Ein anderer nahm Proben vom Teppich. Der junge Uniformierte ging auf einen drahtigen schwarzen Mann zu, der angesichts der stickigen Hitze im Raum die Krawatte löste und Simon Winter ein Zeichen machte. Der alte Detective blieb stehen und wartete, bis der jüngere zu ihm kam. Unterdessen sah er sich die Aktivitäten in der Wohnung genauer an. Dabei zähmte er den Aufruhr seiner Emotionen, indem er sich auf seine Erinnerungen konzentrierte. Du bist schon des Öfteren hier gewesen, redete er sich gut zu. Sieh dir den Ort des Geschehens genau an. Er wird dir alles Nötige verraten, wenn du dir nur die Zeit nimmst und für das empfänglich bist, was er dir mitzuteilen hat – auf seine eigene
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