Der Täter / Psychothriller
hier erzählen.«
Während Simon Winter dem jungen Kriminalbeamten durch die Wohnung folgte, musste er daran denken, dass er erst vor wenigen Stunden denselben Weg gegangen war, nur dass es hier inzwischen von Kriminaltechnikern und Polizisten wimmelte, dass in dem kleinen Raum jede Lampe brannte, und die Blinklichter der draußen geparkten Streifenwagen Muster an die Wände warfen. Dies alles verfremdete den Ort in einem Maße, dass es ihm fast so erschien, als handle es sich bei der Wohnung, die er am selben Tag betreten hatte, während Sophie Millstein an der Tür auf ihn wartete, um einen vollkommen anderen Ort, eine Erinnerung aus der Kindheit. Die Entfernungen, die Farben, die Gerüche, dies alles schien ihm unbekannt. Er sah sich nach dem Kater um, doch der schien verschwunden zu sein. Er folgte dem Detective ins Schlafzimmer.
Sophie Millstein lag auf dem Rücken in ihrem Bett.
Vom Kampf war ihr Nachthemd zerrissen, so dass die schlaffe Rundung ihrer Brust entblößt war. Ihr Haar war nicht aufgesteckt, sondern breitete sich rings um ihren Kopf auf der Matratze aus, als schwebte sie unter Wasser. Ihre Nase war verletzt, und auf der Oberlippe klebte getrocknetes braunes Blut. In beinah schamhafter Manier hatte sie ein Knie über das andere geschlagen, und an der Hüfte klaffte ein Riss in ihrem Nachthemd. Die Laken lagen zerknüllt in einem Haufen zu ihren Füßen. Er spürte das Bedürfnis, das eierschalenfarbene Kleidungsstück über Sophie Millsteins Alabasterhaut zu ziehen.
Simon Winter warf einen kurzen Blick in die Runde. Ein Fotograf lichtete ihre Handtasche ab, die offen auf dem Boden lag. Ein anderer bestäubte die Kommode mit Puder, um Fingerabdrücke zu nehmen. Die Schubladen waren aufgerissen und die Kleider im Zimmer verstreut. Winter erinnerte sich an das Schmuckkästchen neben dem Bild von Leo. Das Foto lag jetzt mit zersplittertem Glas in der Ecke, das Kästchen war verschwunden.
Er drehte sich zu Walter Robinson um.
»Sie hatte ein Kästchen, wissen Sie, so ein kleines Ding aus Metall. Es war ein rötliches Messing, mit einem kleinen eingravierten Muster an der Oberseite. Darin bewahrte sie ihre Ringe, Ohrstecker und anderen Schmuck auf. Stand genau hier.«
Er zeigte auf die Stelle, und der Detective machte sich eine Notiz.
»Es ist weg«, stellte Robinson überflüssigerweise fest. »Sie würden es wiedererkennen?«
»Denke schon«, erwiderte Winter.
Er wandte sich wieder Sophie Millstein zu.
Ein zweiter Mann von der Spurensicherung arbeitete an ihrem Hals, indem er ihre Haut sorgfältig mit Puder bepinselte.
»Körperabdruck?«, fragte Winter.
»Ja«, bestätigte Robinson. »Auf gut Glück, offen gesagt. Wir erhalten vielleicht in einem von hundert Fällen einen brauchbaren Abdruck. Trotzdem der Mühe wert.«
»Haben wir damals auch versucht, hat aber nie funktioniert.«
»Wir haben heute neues Papier. Und die Abnahmefolie ist auch wesentlich besser. Manchmal wenden wir auch eine Technik mit Ultraviolettlicht an. Und, wissen Sie, derzeit entwickelt man einen Laser, der die Abdruckränder erfasst. Trotzdem …«
Er zuckte mit den Achseln.
Der Techniker beugte sich über Sophie Millstein und verstellte Winter den Blick. Er drückte der alten Frau ein Stück Folie auf die Haut und zog es dann behutsam wieder ab. Anschließend presste er die Folie auf ein Stück weißes Spezialpapier, um darauf den Abdruck zu fixieren. »Vielleicht«, murmelte der Techniker. »Sieht manierlich aus.«
Der Mann trat beiseite.
»Wollen Sie jetzt die Identifizierung vornehmen?«, fragte Walter Robinson.
Winter trat vor und betrachtete Sophie Millstein.
Stranguliert, dachte er augenblicklich. Er prägte sich die blauschwarzen Blutergüsse am Hals der alten Frau genau ein. Neben der Luftröhre war von der Kraft, mit der sich die Hände um ihre Kehle gelegt hatten, die Haut gequetscht. Er schätzte den Abstand zwischen den beiden Malen ab.
Große Hände, dachte er. Starke Hände.
»Ist das Mrs.Sophie Millstein?«, fragte Robinson?
Simon Winter starrte weiter auf den Leichnam. Die Augen waren noch geöffnet und blind zur Decke gerichtet. Winter sah die Angst im Gesicht seiner Nachbarin. Sie muss, wenn auch nur für einen Moment, gewusst haben, dass sie hier und jetzt sterben würde. Er fragte sich, ob er, als er sich am späten Nachmittag den eigenen Revolver an den Gaumen gedrückt hatte, denselben Gesichtsausdruck gehabt hatte. Er hätte gern gewusst, ob sie in den letzten Sekunden der Panik
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