Der Täter / Psychothriller
konnte, dass sie eines Tages wie aus dem Ei gepellt ihre Wohnung im Sunshine Arms verlassen hatte.
»Sehe ich ordentlich aus?«, fragte sie nervös.
Eine Stimme außerhalb des Kamerawinkels antwortete: »Sie sehen gut aus.«
»Ich habe mir Gedanken gemacht«, sagte Sophie Millstein. »Ich war noch nie im Fernsehen, und ich wollte nett aussehen. Dieses Kleid …«
»Sie sehen wirklich gut aus«, wiederholte die unsichtbare Stimme. Simon Winter erkannte darin die der jungen Frau neben ihm wieder.
»Mir ist nicht ganz klar, was Sie von mir erwarten«, gestand Sophie Millstein.
»Entspannen Sie sich einfach und kümmern Sie sich nicht um die Kamera«, redete ihr die Stimme der jungen Frau gut zu.
Sophie Millstein setzte sich auf ihrem Stuhl zurecht. »Ich bin mir nicht sicher, ob das eine so gute Idee ist«, meinte sie zögerlich.
»Vergessen Sie einfach die Kamera, Sophie. Sie werden sich ganz schnell daran gewöhnen. Am Anfang ist praktisch jeder nervös.«
»Tatsächlich? Jeder?«
»Jeder.«
»Gut, das beruhigt mich. Aber ich weiß immer noch nicht, was Sie von mir hören wollen.«
»Was wollen Sie denn erzählen?«
»Eigentlich habe ich nicht viel zu berichten. Wirklich nicht.«
»Aber Sie sind hergekommen«, erwiderte die junge Frau. Ihr Ton war sanft. »Irgendetwas hat Sie bewogen, hierherzukommen, um uns etwas mitzuteilen. Was war das?«
Wieder zögerte Sophie Millstein, und Simon Winter sah, wie sie die Augen zusammenkniff, um sich zu konzentrieren.
»Sie sollten es alle erfahren«, antwortete sie.
»Wer sollte es erfahren?«
»Alle, die zu jung sind, um sich zu erinnern.«
»Was sollten sie erfahren?«, hakte die junge Frau hinter der Kamera nach.
»Was geschehen ist. Die Wahrheit. Denn es ist alles wirklich passiert.«
Sophie Millstein biss die Zähne zusammen und verschränkte die Arme über der Brust.
Nach kurzem Schweigen fragte die junge Frau in freundlich abwartendem Ton: »Wie wär’s, wenn Sie mir einfach erzählen würden, was Ihnen passiert ist? Das wäre ein guter Anfang.«
Sophie Millstein machte den Mund auf, presste jedoch augenblicklich wieder die Lippen zusammen. Winter sah, wie ihre Unterlippe kaum merklich bebte. So verharrte sie fast eine Minute lang, und das Videogerät hielt ihr Schweigen fest.
Schließlich schnappte Sophie Millstein nach Luft, als hätte sie die ganze Zeit den Atem angehalten. Ein paar Worte rutschten ihr heraus: »Das sind alles Dinge, die ich vergessen wollte, also habe ich nicht darüber geredet, nicht einmal mit Leo. Ich wünschte, er wäre jetzt hier, denn er würde mir helfen …«
»Aber er ist nicht da, und Sie müssen das alleine durchstehen.«
Sophie Millstein nickte. Ihr stiegen die Tränen in die Augen, und sie rang um Fassung. Wieder kehrte auf dem Video Stille ein, in der nur das rasselnde Geräusch zu hören war, als sie durchzuatmen versuchte.
»Allein«, sagte sie schließlich. Sie blickte in die Kamera, und Simon Winter wurde Zeuge, wie sie sich wieder in den Griff bekam. Sie biss sich auf die zitternde Lippe, straffte die Schultern und blickte geradeaus direkt in die Linse. Im selben Moment, als sie ihr Unbehagen überwunden und die panische Angst vor der Erinnerung abgeschüttelt hatte, fing sie an zu reden – die Worte und Bilder brachen wie ein Mahlstrom aus ihr hervor. Wie eine hohe Welle gingen sie auf Simon Winter nieder, und so suchte er mit beiden Händen am Sitz seines Stuhls Halt.
»Wir waren drei Tage in dem Zug. Wie Tiere eng zusammengepfercht, in unserem eigenen Kot und Dreck. Rings um uns starben Menschen, eine Frau, deren Namen ich nie erfahren habe, sie starb, und acht Stunden lang drückte sie mir mit ihrem ganzen Gewicht in den Rücken, und ich konnte nichts dagegen tun, bis der alte Mann, neben dem sie stand, ebenfalls starb und ich sie nach hinten schieben konnte, so dass die Toten gegen die Toten fielen, und ich weiß noch, wie reglos sie war, und so bleich, als hätte sie jemand aus Stein gemeißelt. Später musste ich immer wieder denken, dass ich sie vorher nach ihrem Namen hätte fragen sollen, um jemandem Bescheid zu geben. Aber das hatte ich nicht. Die Luft, ich hab immer noch den Geruch in dem Waggon in der Nase. Bis heute, jeden Morgen. Vielleicht bin ich deshalb hierher nach Florida gekommen, weil die Luft hier so sauber ist und mich nicht daran erinnert, wie es in diesen drei Tagen war. Es war wie das zusammengeballte Böse, eine dichte, dräuende Wolke, die uns wie eine Krankheit erfasste.
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