Der Täter / Psychothriller
Hansi hielt mich fest – das war mein Bruder Hans, er war vierzehn, zwei Jahre jünger als ich, aber stark. Er war immer so stark. Ich war klein, er dagegen groß, und er hielt mich fest, damit ich nicht versuchte, Mama und Papa zu helfen. Papa hustete die ganze Zeit, und er wurde so schwach, dass ich glaubte, er würde sterben, aber er winkte mir immer wieder zu und sagte: ›Mir fehlt nichts, mir geht es gut, mach dir wegen mir keine Sorgen. Es wird alles gut.‹ Aber das stimmte natürlich nicht, und ich wusste, dass er sterben würde, wenn wir erst in Auschwitz wären, aber trotzdem dachte ich, als sie die Tür aufmachten und die frische Luft hereinließen, da dachte ich, es wäre schon in Ordnung zu sterben, weil ich noch einmal frische Luft bekam, aber es kam anders, denn selbst in der Kälte war der Gestank von den Sterbenden so schlimm, dass ich kaum atmen konnte, und sie brüllten
Raus! Raus!
, und alle mussten schnellstens aus dem Zug. Wir hielten uns aneinander fest, um zusammenzubleiben, doch ich konnte mich nicht mehr an Hansi festhalten, weil wir uns in zwei Reihen aufstellen mussten, die Frauen auf der einen Seite, die Männer auf der anderen, und ich sah, wie er meinen Vater hielt; wo meine Mutter war, wusste ich nicht. Und sie brüllten unentwegt, wir sollten in der Reihe bleiben, dazu bellten und knurrten die Hunde, und ich sah keinen Einzigen, der versuchte, wegzurennen, wir waren alle viel zu schwach und taumelten nur zu diesem Tisch. Der SS -Mann sah einen nur an und stellte ein, zwei Fragen, aber das wissen Sie natürlich alles. Das findet man in allen Berichten, aber es ist wirklich passiert. Es ist mir passiert. Er saß da in seinem grauen Wintermantel und seiner Uniformmütze, die mit dem Totenkopfabzeichen, daran erinnere ich mich noch. Und er trug Handschuhe, so dass man nur diese schwarze Lederhand sah, die in die eine oder die andere Richtung zeigte, es ging alles so schnell. Und nur eine Sekunde lang, als meine Reihe sich vorwärtsbewegte, sah ich Hansi und meinen Vater. Mein Vater hustete, und Hansi stützte ihn, und der SS -Mann zeigte für meinen Vater nach links und für Hansi nach rechts, doch Hansi schüttelte den Kopf und half meinem Vater auf dem Weg nach links, und das war’s, mein Gott, er blieb bei ihm und ging mit ihm in den Tod. Hansi war so kräftig, dass er hätte überleben können. Es wäre möglich gewesen, das habe ich immer gedacht. Er war stark und drahtig, seine Muskeln wuchsen selbst dann, wenn wir tagelang nichts zu essen hatten. Und er hat immer gelächelt, wissen Sie? Er war so voller Leben, gerade mal vierzehn, und immer mit einem glücklichen Lächeln, selbst wenn all das Entsetzliche passierte und die Gedanken nur ums Sterben kreisten und den Tod. Und in dem kurzen Moment hat er zu mir herübergeschaut, und mir wurde schlagartig klar, er wusste, dass er Papa gehen lassen musste, aber er wollte nicht, er hielt ihn am Arm und half ihm, ebenfalls stark zu sein. Er lächelte mich an. Oh, mein Gott, er lächelte mir zu, als wollte er sagen, es ist in Ordnung zu sterben, auch wenn ich noch kein Leben gehabt habe. Vierzehn, aber er war der Stärkste. Also ging er mit, um meinen Vater zu stützen, und so starb er, und ich war für immer allein. Ach, Hansi, wieso bist du nicht nach rechts gegangen?«
Sophie Millstein liefen die Tränen über die Wangen, und Simon Winter dachte: Wie viele Tränen kann man wohl fünfzig Jahre lang stauen?
Auf dem Band fragte die Stimme der jungen Frau: »Brauchen Sie eine Pause?«
»Ja«, sagte Sophie Millstein. Dann widersprach sie: »Nein.«
Sie starrte in die Kamera.
»Ich habe gelogen«, erklärte sie plötzlich in vehementem Ton.
»Inwiefern haben Sie gelogen?«, fragte die junge Frau.
»Als ich den Tisch mit dem SS -Mann erreichte – er war Arzt! Arzt! Wie kann ein Arzt so etwas tun? Also, er fragte mich, wie alt ich sei, und ich sagte sechzehn, und er überlegte, und als er gerade die Hand heben wollte, dachte ich, er zeigt vielleicht nach links, und ich sagte hastig, aber ich bin Elektrikerin. Er sah mich an, und ich sagte, mein Vater sei Elektriker und ich seine Gehilfin, er hätte mir alles beigebracht, und so hoffte ich, dass der SS -Mann mich für nützlich hielt, und tatsächlich zeigte er nach rechts.«
»Kannten Sie sich denn …«
»Nein, ich hatte keine Ahnung. Ich habe gelogen und überlebt.«
Sophie Millstein verstummte. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Das hat mich immer gequält, wussten Sie das?
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