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Der Täter / Psychothriller

Der Täter / Psychothriller

Titel: Der Täter / Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Ich meine, natürlich habe ich nichts Unrechtes getan, aber meine Mama und mein Papa – in Wirklichkeit war er Universitätsprofessor für Linguistik –, meine Eltern haben uns immer beigebracht, dass es eine Sünde sei zu lügen, und es sei wie ein kleiner dunkler Fleck auf der Seele, den man nie ganz wieder weg bekäme und es sei immer, immer, immer besser, die Wahrheit zu sagen, als diesen kleinen Schandfleck mit sich herumzutragen. Und ich hasste es, dass der SS -Mann mich dazu zwang, mein Leben durch eine Lüge zu retten. Alles, was danach geschah, hatte mit dieser Lüge zu tun. Ich hasste sie dafür und wohl auch mich selbst.«
    »Aber wenn Sie die Wahrheit gesagt hätten …«
    »Wäre ich gestorben.«
    »Dann wurden Sie also Elektrikerin?«
    Einen Moment lang zögerte Sophie Millstein, und Simon Winter sah, wie sie erneut die Augen zusammenkniff. Unter dem Ansturm der Gefühle rang sie um Worte, doch nach ein paar Sekunden sprach sie weiter.
    »Nein …«, erwiderte sie langsam. »Nein. Das habe ich Leo erzählt. Und auch allen anderen, die danach fragten. Aber auch das war gelogen. Sie rasierten mir den Kopf. Sie rasierten mich am ganzen Körper. Und ich wurde eine Hure.«
    Sie holte tief Luft. Ihre Stimme bebte, als sei ihr plötzlich kalt. »Und so habe ich überlebt. Als Hure.« Sophie Millstein bückte sich nach etwas, und Winter sah, wie sie ein Spitzentaschentuch aus ihrer Handtasche neben ihren Füßen zog. Sie wischte sich damit die Augen, dann blickte sie zu der jungen Frau hinter der Kamera hinüber.
    »Ich glaube, ich habe mich geirrt«, meinte sie bitter. »Ich habe eine Menge zu erzählen.«
    Mit tränennassen Augen blickte Sophie Millstein in die Kameralinse. Erneut holte sie tief Luft.
    »Es ist mir äußerst schwer gefallen, mir selbst zu vergeben«, gestand sie leise. »Bis heute habe ich das Gefühl, als hätte ich einen fürchterlichen Fehler begangen. Ich kann dieses Gefühl nicht einfach ignorieren, als wäre es Luft.«
    An dieser Stelle trat in der Videoaufnahme Schweigen ein, bis die junge Frau einwarf: »Sophie, Sie haben überlebt. Nur das zählt. Nicht
wie
oder
wieso
oder was Sie dafür machen mussten. Sie haben überlebt, und Sie sollten sich nicht schuldig fühlen.«
    »Ja. Das ist wahr. Das habe ich mir all die Jahre immer wieder gesagt.«
    Erneut hielt Sophie Millstein inne. Inzwischen liefen ihr die Tränen ungehindert die Wangen hinunter und verschmierten ihr das sorgfältige Make-up.
    »Wahrscheinlich habe ich mich die ganze Zeit schuldig gefühlt, weil ich lebe, während so viele andere starben.«
    Wieder verstummte sie.
    »Kann ich etwas zu trinken haben?«, fragte sie mit einem schwachen Lächeln wie ein Kind, das zum ersten Mal ohne Hilfe ein Wort gelesen hat. »Vielleicht ein bisschen Eistee?«
    Sophie Millstein verschwand mit einem Schlag vom Bildschirm, auf dem an ihrer Stelle graue Streifen erschienen, gefolgt von einer blauen Titelei mit ihrem Namen, dem Aufnahmedatum und einer Dokumentennummer.
    Esther Weiss stand auf und schaltete den Fernseher aus. Dann trat sie ans Fenster. Sie zog die flache Jalousie mit einem Rascheln hoch. Das Tageslicht strömte ins Zimmer, und Simon Winter kniff die Augen zusammen. Er sah, wie die junge Frau am Fenster stehen blieb, als müsse sie sich fassen.
    Sie drehte sich zu ihm um. Sie war in Jeans und einem weiten Baumwollhemd salopp gekleidet. Ihre üppige Lockenmähne, die ihr bis auf die Schulter fiel, verlieh ihrem Gesicht einen dynamischen Ausdruck.
    »Wussten Sie, was für eine außergewöhnliche Frau Sophie war, Mr.Winter?«
    Simon Winter hatte es selbst die Sprache verschlagen, und so schüttelte er nur stumm den Kopf.
    »Eine überaus bemerkenswerte Frau. Tapferkeit, Zähigkeit, Zielstrebigkeit, Überlebenswille – das lässt sich nicht messen, das sind bloße Worte, Mr.Winter. Worte, die für etwas stehen, das in unserer heutigen Gesellschaft verlorengegangen ist und unerreichbar fern erscheint. Sämtliche Überlebenden besaßen bis zu einem gewissen Grad diese Eigenschaften, aber Sophie, Sophie war selbst unter ihnen etwas Besonderes. Wussten Sie das über ihre Nachbarin, Mr.Winter?«
    Er schüttelte wieder den Kopf.
    Weiss fuhr fort: »Es ist schon merkwürdig, wie sehr der Schein trügen kann. Sie sah wie eine ganz gewöhnliche kleine alte Dame aus. Vielleicht ein wenig wirr. Ein wenig exzentrisch.«
    Sie blickte Simon Winter ins Gesicht.
    »Die typische jüdische Großmama. Hühnersuppe und die übliche Nörgelei

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