Der Täter / Psychothriller
Bücherschrank und suchte die Fächer mit Bändern ab. Sie fand eines und glich es mit einer Liste ab, dann wandte sie sich wieder ihrem Gast zu.
»Da ist es. Soll ich die Jalousie wieder schließen?«
Er schüttelte den Kopf. Bei hellem Tageslicht fühlte er sich vor all diesen Alpträumen, die auf den Bändern festgehalten waren, sicherer. Sie nickte und legte das Video ein.
Wieder erschien Sophie Millstein auf dem Bildschirm. Diesmal trug sie ein weniger vornehmes Kleid. Eins von ihren vielen geblümten, registrierte Winter. Während die junge Frau den Film vorspulte, um bei dem eigentlichen Gespräch zu beginnen, legten sich zunächst zwei Störstreifen über das Bild, dann lief jede kleinste Bewegung der alten Frau im Zeitraffer ab.
»Hier müsste es sein …«, meinte Weiss. Sie drückte auf einen Knopf, doch bevor Sophie Millsteins Stimme den Raum erfüllte, meldete sich unsichtbar Esther Weiss zu Wort:
»Sophie, wie kam es zu Ihrer Verhaftung?«
Sophie legte die Hand auf den Mund, als wollte sie die Worte, die ihr schon auf der Zunge lagen, mit aller Macht zurückhalten. Doch dann richtete sie sich kerzengerade auf und sprach mit der Autorität eines Augenzeugen vor Gericht:
»Ich erinnere mich noch, dass ich damals zum ersten Mal sah, wie Hansi die Angst ins Gesicht geschrieben stand, denn er kam an jenem Tag nach Hause und sagte, möglicherweise hätte ihn jemand gesehen. Er war sich nicht sicher, denn natürlich veränderten sich die Leute in jenen Jahren so rapide. Es konnte passieren, dass man jemandem in die Augen starrte, mit dem man seit Jahren vertraut war, und ihn nicht wiedererkannte. Der Krieg brachte das mit sich. Und der Hunger. Und der Bombenhagel der Alliierten. Doch Hansi war höchst beunruhigt. Dennoch ging er am nächsten Tag hinaus, um sich eine Arbeit zu suchen. Wir mussten schließlich essen, also hatten wir keine Wahl, und er hoffte, dass Herr Gutmann von der Druckerei ihm als Tageslohn ein Stück Brot geben würde, das war einfach zu wichtig. Also ging er. Aber an diesem Abend kam er erst lange nach Einbruch der Dunkelheit zurück, so dass er sich während der nächtlichen Ausgangssperre an den Wachen vorbeischleichen musste, was er noch nie getan hatte, denn würde er ohne Ausweis erwischt, wäre alles aus. Doch selbst in dem Fall, dass sie seine Papiere akzeptiert hätten, konnte so etwas das Ende bedeuten. Er kam also nach Hause, und ich sah, wie er aufgeregt und ängstlich mit Papa tuschelte, während er der Mama und mir nicht mitteilen wollte, worum es ging. Doch ich beobachtete Papa dabei, wie er zu dem Mantel ging, in den unser sämtliches Geld eingenäht war, und wie er anschließend Hansi einen Ring überreichte. Einen Goldring. Papas Ehering. Hansi nahm ihn und ging durch die Kellerfalltür wieder hinaus. Wenige Minuten später kehrte er zurück, und ich weiß noch, wie er zu Papa sagte, jetzt wäre alles gut, wenn auch nur für ein paar Tage, und so sprachen sie darüber, einen anderen Unterschlupf für uns zu finden. Ich wollte nicht weg. Der Keller war warm und bot uns während der Bombenangriffe Schutz. Vielleicht sind wir deshalb nicht so schnell weitergezogen, wie es ratsam gewesen wäre. Jedenfalls kamen sie zwei Tage später. Die Gestapo klopfte an die Tür. Sie holten uns nach draußen. Ich erinnere mich, wie zwei Soldaten links und rechts die arme Frau Wattner festhielten. Sie sah so verängstigt aus. Sie beteuerte: ›Aber das wusste ich doch nicht, ich hatte keine Ahnung, ich dachte, sie wären ausgebombt!‹ Sie drehte sich zu Papa um und spuckte ihm ins Gesicht. ›Schweinejude!‹, schimpfte sie. Wir wussten natürlich alle, dass sie das sagen musste. Trotzdem tat es weh. Der Mann von der Gestapo verfrachtete uns in einen Wagen, und als ich mich noch einmal umblickte, sah ich, wie Soldaten die arme Frau Wattner an die Hauswand stießen. Papa befahl mir, mich wieder umzudrehen, doch ich hörte die Maschinenpistole, und als ich noch einmal zurückblickte, war niemand mehr da …«
Auf dem Video kämpfte Sophie Millstein einmal mehr mit den Tränen. Sie hielt die Hand in die Höhe. »Tut mir leid, Esther«, entschuldigte sich Sophie Millstein. »Die arme Frau Wattner. Sie brachte uns Suppe, wenn wir keine hatten. Ich glaube, im Moment bin ich nicht in der Lage, von diesem Tag zu sprechen.«
»Sophie«, redete ihr die Frauenstimme hinter der Kamera gut zu, »diese Dinge sind wichtig.«
Sophie Millstein nickte in die Kamera.
»Hansi sagte nicht viel.
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