Der Täter / Psychothriller
Nicht in jener Nacht. Nachdem Mama und Papa endlich schliefen, kroch ich zu ihm unter seinen Wintermantel, denn Decken hatten wir nicht. Ich fragte ihn: ›Hansi, was ist los? Um wen geht es?‹, und zuerst wollte er nichts sagen, doch ich knuffte ihn fest mit dem Ellbogen, und schließlich hielt er die Hand so hoch, dass sie in dem schummrigen Lichtstrahl, der durch das einzige kleine Fenster drang, einen Schatten auf die Wand warf, und da wusste ich Bescheid …«
»Was wussten Sie?«, hakte die junge Frauenstimme nach.
»Ich wusste, dass er irgendwo da draußen war. Und ich wusste, dass er uns bald an die Gestapo verschachern würde. Das wusste ich einfach. Ich muss wohl zusammengezuckt sein oder nach Luft geschnappt haben oder so, denn Hansi versicherte: ›Nein, keine Sorge. Ich habe ihn bezahlt, und er wird uns in Ruhe lassen …‹ Aber das habe ich nicht geglaubt, und Hansi wohl genauso wenig.«
»Dieser Mann. Derjenige, dem er begegnet war …«
»Der uns verraten hat.«
»Ja. Woher kannte er …«
»Ich nehme an, vom Gymnasium. Kein Klassenkamerad von Hansi, sondern jemand, der vielleicht ein paar Jahre älter war als er. So musste es wohl gewesen sein, denn ganz gegen seine Gewohnheit fluchte mein Bruder, und ich weiß noch, wie er sagte, es wäre besser gewesen, er hätte niemals Schreiben und Lesen gelernt.«
Sophie Millstein schwieg einen Moment, dann fügte sie in hartem Ton hinzu: »Er wusste es. In jener Nacht im Dunkeln. Ich entsinne mich, wie einmal wieder in Tempelhof die Bomben herunterkamen. Wir hörten es zuerst aus einiger Entfernung, dann näher. Normalerweise machte mir das Angst, aber nicht in dieser Nacht. Ich weiß noch, wie ich in dieser Nacht gebetet habe, dass sie möglichst eins der britischen Kampfflugzeuge abschießen sollten, so dass es seine Ladung einfach fallen ließ und kurzen Prozess mit uns machte. Ich hatte nur noch den Wunsch, dass es endlich vorbei ist.«
Leise fuhr sie mit ihrer Erzählung fort: »Hansi wusste es, ich wusste es, und ich nehme an, auch Mama und Papa war klar, dass unser Tod praktisch besiegelt war. Wir waren in dem Moment so gut wie tot, als
er
Hansi wiedererkannte. In jenem Augenblick, da er meinem Bruder durch die Stadt gefolgt war, an jeder Haltestelle der Straßenbahn, mit jedem Schritt auf dem Bürgersteig – da waren wir schon tot. Jede Sekunde, die er uns ausgespäht, die er auf den richtigen Moment gewartet hatte – tot. Wir waren praktisch tot, als er meinen Bruder in einem dunklen Winkel einer Seitenstraße stellte und ihm wie eine Schlange ins Ohr zischte: ›Jud, ich kenne dich!‹ Als Hansi ihn um Nachsicht anflehte, waren wir schon tot. Als er Hansi zwang, ihn zu Frau Wattners Keller mitzunehmen und als er sein Bestechungsgeld forderte, waren wir längst tot. Wir waren schon tot, als Hansi ihm den Ring und das Geld überreichte, das wir noch hatten. Und als er ihm die große Lüge auftischte, uns zu verschonen. Nein, nein, wir waren alle schon tot, auch wenn er vorgab, unser Leben zu schonen.«
Sophie Millstein verstummte. Vor Zorn hatte sich ihr Gesicht gerötet, und sie atmete schnell.
»Aber Sie haben überlebt, Sophie«, warf Esther leise ein.
Sophie Millstein kniff die Augen zusammen, und ihre Stimme klang heiser, als sie erwiderte: »Ich hätte überlebt? Glauben Sie, wer das durchgemacht hat, der überlebt? Ach, Sie haben keine Ahnung! Innerlich sind wir alle gestorben! Mag sein, dass der Körper es überstanden hat. Mag sein, dass wir noch atmen konnten. Mag sein, dass wir weiter jeden Morgen aufwachten und das Tageslicht sahen, aber innerlich waren wir tot! Tot!«
»Sophie, das ist nicht wahr«, wandte die junge Frau behutsam ein. »Sie haben überlebt. Andere haben überlebt. Das hatte einen Sinn. Es war wichtig, dass Sie leben.«
Sophie Millstein setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich jedoch anders. Wieder standen ihr die Tränen in den Augen. »Es tut mir so leid, Hansi«, entschuldigte sie sich langsam. »Es tut mir so leid, Mama und Papa. Für alle, die gestorben sind, tut es mir so leid.«
Sie holte tief Luft und nickte.
»Esther, Sie haben recht, ich habe das Leben geliebt. Vielleicht ist es kein perfektes Leben gewesen, vielleicht hätte ich einiges, was ich getan habe, besser nicht getan oder auch einige Dinge besser nicht ausgesprochen, aber was geschehen ist, das kann ich nicht ungeschehen machen, nicht wahr?«
»Nein, das können Sie nicht.«
Sophie Millstein wollte etwas sagen, dachte
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