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Der Täuscher

Der Täuscher

Titel: Der Täuscher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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trat aufs Gas, und die Reifen ihres Camaro hinterließen zwei kurze Streifen auf dem mattschwarzen Asphalt.
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    .Acht
    Seit Amelia Sachs bisweilen über Nacht und übers Wochenende bei Rhyme blieb, hatten sich in dessen viktorianischem Stadthaus gewisse Änderungen vollzogen. Als er noch allein hier gewohnt hatte, nach dem Unfall und vor Sachs, war das Haus zwar mehr oder weniger aufgeräumt gewesen - abhängig davon, ob er gerade wieder einen Betreuer oder eine Haushälterin gefeuert hatte -, aber nicht unbedingt ein wirkliches Zuhause. Nichts Persönliches hatte die Wände geziert - keine der Urkunden, Abschlüsse, Auszeichnungen und Orden, die ihm während der erfolgreichen Amtszeit als Leiter der Spurensicherung des NYPD verliehen worden waren. Und auch keine Fotos seiner Eltern, Teddy und Anne, oder der Familie seines Onkels Henry.
    Sachs war damit nicht einverstanden gewesen. »Deine Vergangenheit und deine Angehörigen sind wichtig«, hatte sie ihn getadelt. »Du löschst deine eigene Geschichte aus, Rhyme.«
    Er hatte ihre Wohnung noch nie gesehen - das Haus war nicht behindertengerecht gebaut -, aber er wusste, dass die Zimmer voller Erinnerungen an ihre Geschichte steckten. Mittlerweile kannte er natürlich viele der Bilder: Amelia Sachs als hübsches junges Mädchen, das nicht viel lächelte (mit Sommersprossen, die schon lange wieder verschwunden waren); als halbwüchsige Schülerin mit Autowerkzeug in der Hand; als Tochter im Studentenalter, die an Feiertagen von einem strahlenden Polizistenvater und einer strengen Mutter flankiert wurde; als Fotomodell für Zeitschriften und Werbeanzeigen, dessen Blick so kühl war wie der all ihrer Kolleginnen (und von dem Rhyme inzwischen wusste, dass er eine verächtliche Reaktion auf die Tatsache darstellte, als reine Kleiderständer behandelt zu werden).
    Und noch Hunderte weiterer Fotos, die meisten von ihrem Vater geknipst, dem Mann mit der allgegenwärtigen Kleinbildkamera.
    Sachs hatte Rhymes leere Wände gemustert und war dorthin gegangen, wohin die Betreuer - sogar Thom - sich nicht wagten:
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    zu den Kisten im Keller, den zahllosen Kartons mit Zeugnissen aus Rhymes früherem Leben, dem Leben im Vorher; sorgsam versteckte Artefakte, die unerwähnt geblieben waren, so wie man niemals mit seiner zweiten Frau über die erste Ehe sprach. Nun füllten die Urkunden, Diplome und Familienfotos die Wände und den Kaminsims.
    Darunter auch das Bild, das Rhyme im Augenblick betrachtete - darauf er selbst als schlanker Teenager im Sportdress seiner Schulmannschaft, aufgenommen unmittelbar nachdem er an einem Wettlauf teilgenommen hatte. Das Haar des Jungen war zerzaust, und seine vorstehende Nase erinnerte an die von Tom Cruise. Er stand vorgebeugt da und stützte sich auf den Knien ab, vermutlich nach einer Strecke von einer Meile. Rhyme war nie ein Sprinter gewesen; er mochte das Lyrische, das Elegante der längeren Distanzen. Das Laufen war für ihn »ein Prozess«.
    Seine Angehörigen saßen für gewöhnlich auf der Tribüne. Sein Vater und sein Onkel wohnten in unterschiedlichen Vororten von Chicago. Lincoln war im Westen zu Hause, in der flachen, kargen Ausdehnung, die damals zum Teil noch aus Ackerland bestand und sowohl unter rücksichtslosen Stadtplanern als auch unter Furcht einflößenden Tornados litt. Henry Rhyme und seine Familie waren größtenteils vor beidem geschützt, denn sie lebten am Seeufer in Evanston.
    Henry fuhr zweimal pro Woche an die Universität von Chicago, um dort seine Hauptseminare in Physik abzuhalten. Das bedeutete eine lange Zugfahrt mit Umsteigen, quer über die vielen sozialen Trennlinien der Stadt hinweg. Paula, seine Frau, lehrte an der Northwestern University. Das Paar hatte drei Kinder, Robert, Marie und Arthur, alle benannt nach Wissenschaftlern, von denen Oppenheimer und Curie am bekanntesten waren. Art verdankte seinen Vornamen Arthur Compton, der 1942
    das berühmte metallurgische Labor der Universität Chicago geleitet hatte, das als Tarnung für die Entwicklung der weltweit ersten kontrollierten nuklearen Kettenreaktion diente. Alle drei Kinder hatten an guten Hochschulen studiert: Robert an der medizinischen Fakultät der Northwestern, Marie im kalifornischen Berkeley und Arthur am MIT, dem Massachusetts Institute of Technology.
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    Robert war vor fahren bei einem Betriebsunfall in Europa ums Leben gekommen.
    Marie arbeitete in China an Umweltprojekten. Von den beiden Elternpaaren der Rhymes war nur noch Tante Paula

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