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Der Täuscher

Der Täuscher

Titel: Der Täuscher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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gedauert. Aber hier bin ich nun und falle kaum auf. Es ist in New York unglaublich einfach, quasi anonym zu bleiben.
    Was für eine fabelhafte Stadt! Man ist hier automatisch unsichtbar. Um Aufsehen zu erregen, muss man sich anstrengen. Genau das ist es, was viele Sechzehner machen.
    Aber es hat auf der Welt schon immer mehr als genug Dummköpfe gegeben.
    Trotzdem muss man natürlich den Schein wahren. Die vorderen Räume meines Hauses sind schlicht und geschmackvoll eingerichtet (danke, Skandinavien). Ich habe nur selten Besuch, aber man braucht eine Fassade, um normal zu wirken. Man muss in der Außenwelt funktionieren. Ansonsten fragen die Sechzehner sich nämlich, ob alles mit rechten Dingen zugeht und ob man womöglich jemand anders ist als vermutet.
    Und von da aus fehlt nicht mehr viel, bis jemand kommt und in deinem Refugium herumschnüffelt und dir alles wegnimmt. Alles, wofür du so schwer gearbeitet hast.
    Alles.
    Und das wäre unsagbar schlimm.
    Also sorgst du dafür, dass dein Refugium geheim bleibt. Du achtest darauf, dass deine Schätze hinter Vorhängen oder abgedunkelten Fenstern versteckt sind, während du den anderen Teil
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    deines Lebens in aller Öffentlichkeit verbringst, auf der sonnenbeschienenen Seite des Mondes. Um nicht aufzufallen, legt man sich am besten eine geeignete Kulisse zu. Man macht, was ich gemacht habe: hält diese moderne schwedische Patina der Normalität sauber und ordentlich, auch wenn es beständig an deinen Nerven zehrt, sich dort aufzuhalten.
    Du hast ein normales Zuhause. Denn das hat jeder.

    Und du hältst freundlichen Kontakt zu Mitarbeitern und Freunden. Denn das tut jeder.
    Und du gehst gelegentlich mit einer Frau aus und verführst sie, über Nacht zu bleiben, wo du dann das gängige Programm absolvierst.
    Denn auch das tut jeder. Es spielt keine Rolle, dass deine Erektion nicht annähernd so hart ausfällt, als hättest du dich in ihr Schlafzimmer geschmeichelt, lächelnd - sind wir nicht Seelenverwandte? Sieh doch, wie viel wir gemeinsam haben! - mit einem Diktiergerät und einem Messer in deiner Jackentasche.
    Nun ziehe ich die Vorhänge der Fensternische zu und gehe in den hinteren Teil des Wohnzimmers.
    »Wow, ist das hübsch hier. . Von draußen sieht es aber größer aus.«
    »Ja, komisch, wie man sich manchmal täuscht.«
    »He, dahinten ist ja eine Tür. Wohin führt die?«
    »Ach, das ist bloß Stauraum. Ein Wandschrank. Nichts Besonderes. Möchtest du ein Glas Wein?«
    Nun, Debby, Sandra, Susan, Brenda, ich gehe jetzt durch diese Tür. In mein richtiges Zuhause. Mein Refugium, wie ich es nenne. Es ist wie ein Burgfried, das letzte Bollwerk einer mittelalterlichen Festung, die Zuflucht im Zentrum. Wenn keine andere Möglichkeit mehr blieb, zogen der König und seine Familie sich in den Burgfried zurück.
    Meinen betrete ich durch jenes magische Portal. Es handelt sich tatsächlich um einen begehbaren Wandschrank, in dem Kleidung hängt und Schuhkartons stehen. Aber dahinter gibt es eine zweite Tür, und hinter ihr liegt der Rest des Hauses, der viel, viel größer ist als der entsetzliche schwedenblonde Minimalismus der Fassade.
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    Mein Refugium. .
    Ich gehe hindurch, verriegle die Tür hinter mir und schalte das Licht ein.
    Versuche, mich zu entspannen. Aber nach dem heutigen Tag, nach der Katastrophe, fällt es mir schwer, das kribbelige Gefühl abzuschütteln.
    Das ist nicht gut, das ist nicht gut, das..
    Ich setze mich an meinen Schreibtisch und fahre den Computer hoch. Währenddessen betrachte ich das Prescott-Gemälde vor mir, das Souvenir von Alice 3895. Was für einen Pinselstrich er hatte! Die Augen der Familienmitglieder sind faszinierend. Es ist Prescott gelungen, jedem einen anderen Blick zu verleihen. Die Verwandtschaft der Personen ist nicht zu übersehen; ihre Gesichtszüge ähneln sich. Und doch sind sie alle verschieden, als denke jeder in diesem Moment an einen anderen Aspekt des Familien-lebens: fröhlich, sorgenvoll, verärgert, verwirrt, beherrschend, beherrscht.
    All das, was sich in einer Familie abspielt. Nehme ich an.
    Ich öffne den Rucksack und hole die Schätze hervor, die ich heute gefunden habe.
    Einen Blechkanister, ein Bleistiftset, eine alte Käsereibe. Warum landet so etwas im Abfall? Ich nehme außerdem die praktischen Dinge heraus, die ich im Laufe der nächsten Wochen verwenden werde: einige im Voraus bewilligte und achtlos weggeworfene Kreditanträge, Kreditkartenbelege, Telefonrechnungen .. Dummköpfe, wie

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