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Der Täuscher

Der Täuscher

Titel: Der Täuscher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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schwarzweißes. Darauf waren zwei schlaksige Männer Mitte zwanzig zu sehen, die Anzüge trugen und kerzengerade nebeneinander standen, als überlegten sie, ob sie sich umarmen sollten.
    Rhymes Vater und Onkel.
    Er dachte oft an Onkel Henry. An seinen Vater nicht so häufig. Das war schon immer so gewesen. Oh, es gab an Teddy Rhyme nichts zu beanstanden. Der jüngere der beiden Brüder war einfach nur zurückhaltend, zumeist sogar schüchtern. Er liebte es, tagein, tagaus in einem Labor zu sitzen und Berechnungen anzustellen, und er las sehr gern, was er jeden Abend in einem dicken, abgewetzten Lehnsessel tat, während seine Frau Anne nähte oder fernsah. Teddy bevorzugte Geschichtsbücher, besonders über den amerikanischen Bürgerkrieg, eine Vorliebe, die, so vermutete 114
    Rhyme, auch zum Tragen gekommen war, als er einen Vornamen für seinen Sohn ausgewählt hatte.
    Der Junge und sein Vater kamen gut miteinander aus, obwohl Rhyme sich an viele peinliche Momente der Stille entsinnen konnte, wenn Vater und Sohn allein waren.

    Was Umstände bereitet, verlangt nach Engagement. Wer mit einer Herausforderung konfrontiert wird, fühlt sich lebendig. Und Teddy bereitete niemals Umstände oder forderte heraus.
    Onkel Henry hingegen schon. Andauernd.
    Du konntest keine fünf Minuten mit ihm im selben Raum sein, ohne dass seine Aufmerksamkeit sich wie ein Suchscheinwerfer auf dich richtete. Dann kamen die Witze, die Anekdoten, der neueste Familienklatsch. Und immer die Fragen - manche aus aufrichtiger Neugier. Die meisten jedoch waren als Aufforderung zur Diskussion gedacht. Oh, wie sehr Henry Rhyme es genoss, ein Streitgespräch zu führen. Du mochtest dich winden, du mochtest erröten, du mochtest wütend werden. Aber du würdest auch fast platzen vor Stolz, wenn er dir eines seiner seltenen Komplimente machte, denn du wusstest, dass du es dir verdient hattest. Nie kam ein falsches Lob oder eine ungerechtfertigte Ermunterung über Onkel Henrys Lippen.
    »Du bist nah dran. Denk schärfer nach! Du kannst es. Als Einstein all seine wichtigen Arbeiten zustande gebracht hatte, war er kaum älter als du.«
    Wenn du es hinbekamst, wurdest du mit einer beifällig gehobenen Augenbraue gesegnet, was ungefähr so viel wert war, als hättest du den Westinghouse Wissenschaftspreis gewonnen. Doch allzu oft waren deine Argumente irrig, deine Prämissen wertlos, deine Fakten dubios. . Es ging ihm allerdings nicht darum, dich zu besiegen; er wollte einzig und allein zur Wahrheit vordringen und sicherstellen, dass du den Weg dahin begriffen hattest. Sobald er deine Beweisführung zu Hackfleisch verarbeitet und sich vergewissert hatte, dass dir der Grund klar war, hatte die Angelegenheit sich erledigt.
    Du verstehst also, was dein Fehler war, ja? Du hast deiner Temperaturberechnung falsche Annahmen zugrunde gelegt. Genau! So, und jetzt lass uns herumtelefonieren und ein paar Leute auf
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    treiben, mit denen wir am Samstag zu den White Sox gehen. Ich brauche unbedingt mal wieder einen Stadion-Hotdog.
    Lincoln hatte viel Spaß an den intellektuellen Wortgefechten gehabt und war oft den ganzen Weg bis zur Universität in Hyde Park gefahren, um sich in eines von Henry Rhymes Seminaren zu setzen oder an einer seiner zwanglosen Diskussionsrunden teilzunehmen. Er hatte sich sogar häufiger dort blicken lassen als Arthur, der meistens anderweitig beschäftigt gewesen war.
    Wenn sein Onkel noch am Leben wäre, würde er nun zweifel os in Rhymes Labor schlendern, seinen reglosen Körper keines Blickes würdigen und stattdessen auf den Gaschromatographen deuten. »Was denn?«, würde er rufen. »Benutzt du dieses alte Mistding etwa immer noch?« Dann würde er sich vor die Tafeln setzen und Rhymes Arbeit am Fall 522 hinterfragen.
    Ja, aber ist es logisch, dass dieser Täter sich so verhält? Nenn mir doch bitte noch einmal deine Hypothesen.
    Rhyme dachte wieder an den Tag zurück, der ihm zuvor schon in den Sinn gekommen war: der Heiligabend seines letzten Highschooljahrs, im Haus seines Onkels in Evanston. Anwesend waren Henry und Paula mit ihren Kindern Robert, Arthur und Marie; Teddy und Anne mit Lincoln; einige Tanten und Onkel, andere Cousins sowie ein oder zwei Nachbarn.
    Lincoln und Arthur hatten den größten Teil des Nachmittags damit verbracht, im Untergeschoss Poolbillard zu spielen und über ihre Pläne für den nächsten Herbst und das College zu reden. Lincolns Herz hing am MIT, und auch Arthur wollte dorthin. Sie waren beide

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