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Der Täuscher

Der Täuscher

Titel: Der Täuscher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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zuversichtlich, die Zulassung zu schaffen, und erörterten die Frage, ob sie sich gemeinsam ein Zimmer im Studentenwohnheim nehmen oder sich eine Wohnung außerhalb des Campus suchen sollten (männliches Zusammengehörigkeitsgefühl contra Lasterhöhle).
    Dann versammelte die Familie sich rund um den großen Tisch im Esszimmer seines Onkels. Der nahe Lake Michigan war aufgewühlt, und im Garten hinter dem Haus pfiff der Wind durch die kahlen grauen Äste. Henry saß der Tafel vor, als würde er eines seiner Seminare leiten, tonangebend und aufmerksam, lächelnd und mit flinken Augen, stets auf alle anderen Gespräche gleichzei
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    tig konzentriert. Er erzählte Witze und Anekdoten und erkundigte sich nach dem Befinden seiner Gäste. Er war interessiert, neugierig - und bisweilen manipulativ.
    »Also, Marie, nun, da wir alle hier sind, erzähl uns doch mal von dem Stipendium in Georgetown. Ich glaube, wir sind uns einig, dass es eine hervorragende Wahl für dich wäre. Und Jerry kann dich dann jedes Wochenende mit seinem schicken neuen Auto besuchen kommen. Übrigens, wann läuft die Bewerbungsfrist ab? Irgendwann demnächst, wenn ich mich recht entsinne.«
    Und seine Tochter mit dem dünnen Haar wich seinem Blick aus und sagte, wegen Weihnachten und der Abschlussprüfungen habe sie den Papierkram noch nicht erledigen können. Aber das würde sie noch. Ganz bestimmt.
    In Wahrheit wollte Henry natürlich nur erreichen, dass seine Tochter sich vor Zeugen zu der Bewerbung verpflichtete, obwohl das bedeutete, dass sie und ihr Verlobter weitere sechs Monate voneinander getrennt sein würden.
    Rhyme war schon immer überzeugt gewesen, dass sein Onkel einen erstklassigen Rechtsanwalt oder Politiker abgegeben hätte.
    Nachdem die Reste des Truthahns und der Pastete abgeräumt waren und Grand Marnier, Kaffee und Tee auf dem Tisch standen, führte Henry alle Anwesenden ins Wohnzimmer, in dem vor allem der riesige Weihnachtsbaum, das prasselnde Kaminfeuer und das Gemälde von Lincolns streng dreinblickendem Großvater auf-fielen, einem Mann mit drei Doktortiteln und einer Professur in Harvard. Es war Zeit für das Quiz.
    Henry würde eine Reihe von Wissenschaftsfragen stellen, und für jede richtige Antwort gab es einen Punkt. Die drei besten Spieler bekamen Preise, die Henry ausgewählt und Paula sorgfältig eingepackt hatte.
    Die Anspannung war fast greifbar - wie immer, wenn Henry das Sagen hatte -, und die Teilnehmer gaben sich aufrichtig Mühe. Lincolns Vater konnte stets die meisten Chemiefragen für sich entscheiden. Sobald es um Zahlen ging, hatte seine Mutter, die auf Teilzeitbasis als Mathematiklehrerin arbeitete, manchmal schon die Antwort parat, bevor Henry auch nur die Frage beenden konnte.
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    Die diesjährigen Spitzenreiter waren jedoch die Kinder - Robert, Marie, Lincoln, Arthur und Maries Verlobter.
    Gegen Ende, kurz vor zwanzig Uhr, hielt es die Wettbewerber kaum noch auf ihren Stühlen. Mit jeder Frage änderte sich die Rangliste. Alle hatten feuchte Hände. Als nur noch wenige Minuten auf Zeitnehmerin Paulas Uhr blieben, gelang es Lincoln, drei Fragen in Folge zu beantworten, was ihm den entscheidenden Vorsprung für den Sieg verschaffte. Marie erreichte den zweiten Platz, Arthur den dritten.
    Unter dem Beifall der anderen verneigte Lincoln sich theatralisch und nahm aus der Hand seines Onkels den ersten Preis entgegen. Nie würde er seine Überraschung vergessen, als unter dem dunkelgrünen Papier ein Kästchen aus durchsichtigem Plastik zum Vorschein kam, das einen Betonwürfel von etwa zweieinhalb Zentimetern Kantenlänge enthielt. Es handelte sich aber nicht etwa um einen Scherz, sondern um ein Stück des Stagg-Field-Stadions der Universität von Chicago, wo unter der Leitung von Enrico Fermi und Arthur Compton, dem Namensvetter von Lincolns Cousin, die erste nukleare Kettenreaktion eingeleitet worden war. Beim Abriss des Stadions in den Fünfzigerjahren hatte Henry offenbar eines der Stücke erworben. Lincoln war über dieses historisch bedeutsame Geschenk sehr gerührt und plötzlich froh, dass er sich bei dem Quiz so angestrengt hatte. Er besaß den Stein immer noch, in einem der Kartons unten im Keller.
    Doch anfangs hatte Lincoln gar keine Zeit, seinen Preis gebührend zu bewundern.
    Denn er war später an jenem Abend noch mit Adrianna verabredet gewesen.
    Und ebenso wie seine Familie sich heute unerwartet in seine Gedanken gedrängt hatte, trat nun auch die schöne rothaarige Kunstturnerin aus

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