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Der Täuscher

Der Täuscher

Titel: Der Täuscher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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den Schatten der Erinnerung hervor.
    Adrianna Waleska - mit weichem W, das von der Herkunft ihrer Großeltern aus Danzig zeugte - arbeitete im Büro der Studienberatung von Lincolns Highschool. Als er zu Anfang seines letzten Schuljahrs einige Bewerbungen bei ihr abgegeben hatte, war ihm auf ihrem Schreibtisch ein zerlesenes Exemplar von Heinleins Ein Mann in einer fremden Welt aufgefallen. Daraufhin
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    hatte er mit ihr ausführlich über den Roman diskutiert, war sich in vielem mit ihr einig und in manchem uneinig gewesen und hatte erst am Ende festgestellt, dass unterdessen seine Chemiestunde verstrichen war. Egal. Man musste Prioritäten setzen.
    Sie war groß, schlank, trug eine unsichtbare Zahnspange und konnte unter ihren flauschigen Pullovern und Schlaghosen eine reizvolle Figur vorweisen. Ihr Lächeln reichte von überschwänglich bis verführerisch. Schon bald darauf gingen Lincoln und sie miteinander aus, was für beide der erste Vorstoß auf das Gebiet einer ernsthaften Liebesbeziehung war. Sie begleiteten einander zu ihren jeweiligen Sportwettkämpfen, besuchten die Thorne Rooms im Art Institute, die Jazzclubs in Old Town und gelegentlich auch die Rückbank von Adriannas Chevy Monza, wo es so eng war, dass ohnehin kaum etwas passieren konnte. Adrianna wohnte nicht weit von Lincolns Haus entfernt, zumindest für einen Langstreckenläufer, aber natürlich konnte er nicht einfach zu ihr rennen und völlig verschwitzt dort auftauchen, also lieh er sich so oft wie möglich den Wagen der Familie aus.
    Die beiden führten stundenlange Gespräche. Und so wie mit Onkel Henry kreuzte er auch mit Adie verbal die Klingen.
    Es gab Hindernisse, ja. Er würde nächstes Jahr in Boston aufs College gehen, sie in San Diego, um dort Biologie zu studieren und nebenher im Zoo zu arbeiten. Aber das waren bloß ein paar Komplikationen und somit damals wie heute keine akzeptablen Ausreden für jemanden wie Lincoln Rhyme.
    Später - nach dem Unfall und der Scheidung von Blaine - fragte Rhyme sich häufig, was wohl gewesen wäre, wenn er und Adrianna zusammengeblieben wären und ihre Beziehung weiter vertieft hätten. An jenem Heiligabend hätte er ihr jedenfalls fast einen Antrag gemacht. Er hatte sich sogar überlegt, ihr keinen Ring, sondern, so sein schlauer Spruch, »eine andere Art Stein« zu schenken - nämlich den Preis, den er beim Wissenschaftsquiz seines Onkels gewonnen hatte.
    Doch es kam nicht dazu, und zwar wegen des Wetters. Als sie eng umschlungen auf einer Bank saßen, setzte aus dem windstil en mittelwestlichen Himmel plötzlich starker Schneefall ein und hüllte ihre Haare und Mäntel innerhalb von wenigen Minuten in
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    eine feuchte weiße Decke. Lincoln begleitete Adrianna zurück und schaffte es dann selbst gerade noch nach Hause, bevor die Straßen unpassierbar waren. In jener Nacht lag er wach, das Plastikkästchen neben sich im Bett, und übte in Gedanken den Wort-laut seines Heiratsantrags.
    Aber er hielt nie um ihre Hand an. Diverse Ereignisse in ihrer beider Leben schickten sie in unterschiedliche Richtungen. Obwohl es scheinbar nur Kleinigkeiten waren, hatten sie letztlich gewaltige Auswirkungen, so wie die unsichtbaren Atome, die in einem eisigen Sportstadion zur Spaltung gebracht wurden und auf ewig die Welt veränderten.
    Alles wäre anders gekommen. .
    Durch den Türspalt erhaschte Rhyme einen Blick auf Sachs, die sich das lange rote Haar bürstete. Er sah ihr ein paar Sekunden lang zu und war froh, dass sie über Nacht blieb - froher als üblich. Rhyme und Sachs waren nicht unzertrennlich. Sie legten beide ausgesprochen viel Wert auf ihre Unabhängigkeit und zogen es häufig vor, ihre Zeit ohne den anderen zu verbringen. Aber heute Nacht wollte er sie hierhaben. Wollte die Nähe ihres Körpers spüren - an den wenigen Stel en, an denen ihm das möglich war -
    und dieses seltene Ereignis umso intensiver genießen.
    Seine Liebe zu ihr war eine der Kraftquellen für das harte Training mit dem computergesteuerten Laufapparat und dem elektrisch angetriebenen Fahrradergometer. Falls die Medizin ihm jemals ermöglichte, wieder gehen zu können, würde seine Muskulatur bereit sein. Er dachte außerdem über eine neuartige Operation nach, die seinen Zustand bis zu jenem Zeitpunkt verbessern könnte. Der experimentelle - und umstrittene - Eingriff wurde als periphere Nervenumleitung bezeichnet, eine Technik, die schon seit Jahren diskutiert und vereinzelt ausprobiert worden war, ohne sonderlich viele

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