Der Tag an dem die Sonne verschwand
nur ist alles so, wie es ist? Ist es denn wirklich so, wie es zu sein scheint? Vielleicht ist alles nur eine Illusion? Und warum lebe ich? Aber lebe ich denn wirklich? Vielleicht bin ich schon lange tot und weiß es gar nicht.
Kann ich noch auf positive Veränderungen hoffen? Was wäre das Beste, was mir geschehen könnte? Was würde ich tun, wenn die Sonne wiederkäme und das Thermometer anstiege? Durch andere Städte, gar Länder irren? Bin ich verdammt, für immer alleine zu sein? Wann ist der richtige Zeitpunkt von eigener Hand zu sterben? Ich glaube mittlerweile, dass eine kosmische Katastrophe die Ursache der mich umgebenden Phänomene ist. Alle anderen Überlegungen erscheinen mir zu abwegig. Vielleicht gab es eine plötzliche und ungemein heftige, die Weltordnung zerstörende Strahlung aus dem All, die das Leben binnen Kürze in seine Grundbestandteile, seine Atome zerlegt hat, und die Menschen und Tiere wurden von den Winden davongetragen.
Aber bin ich wirklich der einzige Überlebende? Der Einzige auf dieser so großen Erde? Eigentlich kann ich es nicht glauben, jedoch … wer weiß? Wäre ich lieber auch gestorben, am 17. Juli? Eindeutig: ja! Schon als Jugendlicher fand ich die Vorstellung, mit allen Menschen gemeinsam unterzugehen, weniger schlimm, als alleine das Leben verlassen zu müssen.
Aber vielleicht sind die anderen ja gar nicht tot, vielleicht halten sie sich alle irgendwo auf – und leiden fürchterlich.
Warum habe ich mich damals nach Maries Tod nicht umgebracht? Sie hat mich davon abgehalten. Ich weiß genau, dass sie es nicht gewollt hätte. Ich weiß es hundertprozentig.
Was mache ich, wenn es noch kälter wird? Oder wenn die Schneemassen sogar bis zum vierten Stock anwachsen? Ob die Sonne implodiert ist? Bin ich vielleicht verstrahlt, ohne es zu wissen, und der Zerfall kommt langsam, ein schleichender Tod …
Ich will mir all diese Gedanken und Mutmaßungen verbieten. Sie führen zu nichts.
Ich muss meinen Alltag organisieren, das ist wichtig. Und zur Ablenkung lese ich – und schreibe hier.
Mehr ist im Moment nicht zu tun.
9. EINTRAG
Wer bedingungslos geliebt wird, ist einer schlimmen Versuchung ausgesetzt. Nur die Reifen und Klugen können sich ihrer erwehren. Davon bin ich heute absolut überzeugt.
Ich fühlte mich von Marie so sehr geliebt, dass ich meiner Eigensucht immer freieren Lauf ließ. Ich fühlte mich sicher, so sicher. Was hätte mir passieren können? Diese Frau stand zu mir wie noch nie eine andere Frau zuvor. Auch mit Rat und Tat. Alle Lebensbereiche betreffend. Ihr Urteil war mir stets wichtig. Jede berufliche Entscheidung besprach ich eingehend mit ihr. Ebenso finanzielle Angelegenheiten. Und immer war sie so bei der Sache, als ginge es um sie selbst. Ich dachte damals nicht bewusst darüber nach, aber mein Handeln war bestimmt von dem untergründigen Gefühl, diese Frau wird dich nie und nimmer verlassen, die ist dir sicher. Und so wurde ich träge und bequem und ließ mich in meinen Befindlichkeiten regelrecht gehen. Ihre Liebe, so absurd es auch klingt, hat meine Selbstherrlichkeit geschürt. Aber Schuld daran trage allein ich. Weil ich das Glück, das mir damals zuteil wurde, nicht genügend wertschätzte. Wobei mir durchaus klar war, welch ein wundervoller Mensch an meiner Seite lebte – auch ich habe sie ja über alles geliebt. Was mich jedoch keineswegs davon abhielt, in meinen Parallelwelten zu huren und mir dabei auch noch einzureden, das eine habe mit dem anderen rein gar nichts zu tun. Ich schäme mich so sehr. Ich schäme mich bis auf meinen Seelengrund für all die Zumutungen und Lügen, die ich ihr angetan habe.
Marie wollte immer Kinder. Ich nicht. Obwohl ich Kinder stets sehr gemocht habe. Ich spielte, redete und tollte ausgesprochen gerne mit ihnen, aber nach einer gewissen Zeit reichte es mir, und ich war froh, sie wieder los zu sein. Nur im frühen Alter von sechzehn bis ungefähr zwanzig Jahren träumte ich von einem klassischen Familienleben und wünschte mir mindestens zwei Nachkommen. Aber je älter ich wurde, desto weniger war ich an eigenen Kindern interessiert. Und als ich Marie kennenlernte, hatte ich dieses Thema längst ad acta gelegt. Ich wollte frei sein. Mit einem Kind hätte ich mein Leben nicht so leben können, wie ich es mir wünschte. Und so befremdlich es auch klingen mag, die große Liebe zu Marie hat meinen Entschluss, auf ein Kind zu verzichten, dann endgültig zementiert. Weil unsere Beziehung, für meinen
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