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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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nichts aus. Sie versuchte mich aufzumuntern und zog mich ins Wasser. Das war dann auch eine gute Erfrischung, aber den Rest des Nachmittags habe ich ihr und uns versaut, indem ich ständig nörgelte: »Ich find’s scheiße hier.« »Du immer mit deinem See.« »Das ganze Volk hier geht mir auf den Geist.« »Wir hätten in den Stadtpark und dort ins Café gehen sollen.« »Du musst ja immer genau dahin, wo alle sind.« Und so weiter. Nach zwei Stunden war sie mürbe und auch ihre gute Laune hatte sich verflüchtigt. Wir packten unsere Sachen und machten uns auf den Heimweg.
    Wanderten wieder über die grellgrüne Wiese, doch diesmal ohne Gesang. In mir rumorte es. Ich war hin- und hergerissen zwischen meinem schlechten Gewissen und einer deftigen Wut. Die Gewissensbisse hatte ich, weil ich ja für die miese Stimmung verantwortlich war, und die Wut richtete sich gegen Marie, weil ich ihr die Schuld gab, dass wir überhaupt zum See gegangen waren. Ich versuchte, mir meine inneren Kämpfe nicht anmerken zu lassen und redete belangloses Zeug. Auch sie erzählte irgendetwas und verbarg ihre wahren Gefühle. Ich weiß nicht, ob sie zornig auf mich war oder einfach nur traurig. Erst nachdem wir endlich in ihrer Wohnung angekommen waren, normalisierte sich meine Stimmung wieder, und auch sie schien den verpfuschten Nachmittag ad acta gelegt zu haben.
    Wir duschten, tranken Kaffee in ihrer Küche und Weißwein auf ihrem Balkon und überlegten, wie wir den Abend gestalten sollten. Ungefähr sechs Stunden hatten wir noch bis zur Abfahrt meines letzten Zuges. Ich wollte nicht bei Marie übernachten, weil ich am nächsten Morgen einen wichtigen Termin in meiner Stadt hatte. Da war es bequemer für mich, zu Hause zu schlafen – so erklärte ich es ihr. Und sie sagte: »Ach komm, dann stehen wir halt zusammen etwas früher auf, und dafür sind wir heut Nacht zusammen, und der ganze Abend ist entspannter. Bleib hier, es wird eine so schöne Sommernacht, lass sie uns doch gemeinsam genießen!« »Nein, ich habe keine Lust, morgen so früh aufzustehen! Wir sehen uns doch ständig, und der Sommer liegt noch vor uns. Wenn ich um null Uhr fahre, dann ist das doch wohl absolut in Ordnung, oder?«
    Sie machte noch zwei Versuche, mich zu überreden. Als ich dann aber sehr barsch reagierte, gab sie es auf, und wir beschlossen, ins Schlossgartenrestaurant zu gehen. Dort aßen wir eine große Salatplatte mit Putenbruststreifen und tranken dazu anderthalb Flaschen Riesling. Unsere letzten Stunden verliefen harmonisch, obwohl ich ihre Enttäuschung durchaus spürte. Aber ich kümmerte mich nicht groß darum, sondern war mit meinen Gedanken ständig bei meinem Termin am nächsten Tag – ein Treffen mit einem mittelständischen Unternehmer, der mir in Aussicht gestellt hatte, Fotos für seine neue Werbekampagne machen zu können. Es lockten ein sattes Honorar und wahrscheinlich interessante Folgebuchungen.
    Um dreiundzwanzig Uhr dreißig brachen wir in Richtung Bahnhof auf. Wir gingen Arm in Arm. Sie war mir nicht böse. Ich streichelte ihr über das Haar. Und die heiße Sommernacht trug ein so funkelndes Sternenkleid, wie ich es in unseren Breiten lange nicht mehr gesehen hatte. Wir schlenderten vorbei an Straßencafés, an Parkbänken, an lachenden Menschen, an schweigenden Menschen. »So könnte es sein, wenn die Zeit einmal stehen bliebe«, sagte Marie. »Es ist warm, so friedlich und überall herrscht Gleichmut.«
    Der Bahnhof war fast menschenleer. Mein Zug rollte ein. Ich küsste sie, so wie ich sie in derartigen Situationen immer geküsst hatte, ohne besondere Aufmerksamkeit. Die Uhr zeigte 23.58 Uhr. Ich stieg in einen Waggon, nahm zwei Stufen nach oben, drehte mich wieder um und verharrte in der offenen Tür. Marie stand vor mir auf dem Gleis. Sie blickte zu mir auf. »Es war ja doch noch ein schöner Abend«, sagte sie, »ich freue mich, dass du mich besucht hast.« Und dann tat mir plötzlich alles so unendlich leid: mein Verhalten am Nachmittag, meine Unfreundlichkeiten, und dass ich ihr den Wunsch abgeschlagen hatte, bei ihr zu übernachten. Die Türen schlossen automatisch, und mit leichtem Quietschen und Knarren fuhr der Zug los. Ich drückte meine Nase an die Glasscheibe der Tür, und Marie lief neben dem Zug her, so, als wollte sie den Moment der Trennung noch etwas hinauszögern. Das hatte sie manchmal getan, wenn sie über meine Abreise sehr traurig gewesen war. Ich streckte ihr die Zunge entgegen. Dann blieb sie stehen –

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