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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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und streckte auch mir die Zunge raus.
    Vierundzwanzig Stunden später war sie tot.

21. EINTRAG
    Ich glaube, seit dem Aufzug des Nebels vor vier Wochen (und schon ein paar Tage davor) hat es überhaupt nicht mehr geschneit. Heute ist der 1. November. Die Temperatur liegt bei etwa 11,5 Grad minus, und es ist nach wie vor vollkommen still draußen.
    Ich gehe meinen Ritualen wieder nach: lesen, schreiben, essen, durch das Haus wandern am Abend (mit einer Taschenlampe in der Hand), Musik hören und so weiter.
     
    Ich überlege, warum ich das alles hier aushalte, warum ich mich verhalte, wie ich mich verhalte – und warum ich am 17. Juli, als das Unglück begann, nicht in heillose Panik geraten bin; hatte ich doch noch nie eine vergleichbare Angst erlebt, nie eine solche Einsamkeit, nie eine derartige Ausweglosigkeit. Aber ich bin nicht durchgedreht. Ich bin nicht Amok gelaufen. Ich habe mir nicht das Leben genommen. Stattdessen habe ich mich schnell, eigentlich überraschend schnell, diesen unfassbaren Ereignissen ergeben, mich nicht gegen sie gestellt. Warum war das so? Hätte ich nicht noch mehr unternehmen können?
    Ja, bestimmt! Ich hätte damals beispielsweise zum Bahnhof laufen können; vielleicht wäre es mir gelungen, einen Zug in Bewegung zu setzen und davonzufahren, zu fliehen, in eine bessere oder gar noch intakte Welt. Vielleicht wäre es aber auch sinnlos gewesen, weil überall dieselben Zustände herrschten (was sehr wahrscheinlich war, da mein Weltempfänger nichts, aber auch gar nichts von irgendwo empfing). Aber ich hätte es immerhin versuchen können. Ich habe es nicht getan. Warum?
    Hier im Zentrum der Stadt gibt es einen Radiosender, der weit über die Stadtgrenzen hinaus zu empfangen ist. Warum bin ich nicht dorthin gegangen? Damals floss der Strom noch. Ich kenne mich zwar mit der Technik nicht aus, aber vielleicht wäre es mir gelungen, einen Hilferuf zu senden, als Endlosschleife. Womöglich hätte es irgendjemand da draußen gehört. So es denn irgendjemanden da draußen gegeben hat. Aber ich habe es nicht getan. Warum?
    Ich hätte, als der Schnee noch nicht zu hoch war, mit einem Geländewagen oder Baufahrzeug noch viel öfter die Stadt verlassen können, das Leben zu suchen – oder nach den Ursachen der Katastrophe zu forschen. Vielleicht wäre ich auf eine Spur geraten, die mich irgendwie hätte weiterbringen können. Ich habe es nicht getan! Warum? Nun, ich hatte außerhalb der Stadt noch weitaus größere Angst, weil mir dort die tote Welt noch viel unheimlicher vorkam als hier. Und meine Wohnung schien mir wie eine schützende Burg, eine Festung gegen das Nichts, inmitten des Nichts. Trotzdem hätte ich immer wieder suchen können, in allen Himmelsrichtungen. Ich hätte die Stadt auch ganz verlassen können, mit einem Auto oder einem Zug, Treibstoff gab es überall in Hülle und Fülle. Ich hätte fahren können bis Portugal oder bis Italien, bis Russland, in die Mongolei oder sogar noch weiter und immer weiter. Wer weiß, auf was ich alles gestoßen wäre. Vielleicht hätte es mir genützt oder geholfen. Aber ich habe es nicht getan!
    Ich hätte mir in einem Geschäft Leuchtmunition nehmen können, in großen Mengen, um immer wieder mal in die Luft zu schießen und so auf mich aufmerksam zu machen. Ich habe es nicht getan! Warum?
    Gewiss! Ich stand unter einem nie gekannten Schock! Und ich wollte die neue Realität nicht wahrhaben. Weil das alles ja viel zu fantastisch war, als dass man es hätte ernst nehmen können. Das wäre eine Erklärung – aber keine ausreichende.
    In den ersten vier Wochen war ich zweimal kurz davor gewesen, mich selbst zu töten. Mit starken Schlafmitteln. In meinem Medikamentenvorrat auf dem Flur befinden sich ja genug davon. Ich hatte die Tabletten schon ausgepackt und auf dem Tisch verteilt. Dort lagen sie über Stunden und ich umschlich sie, dachte dabei wirres Zeug, kam mir feige vor, malte mir mein Sterben aus, hatte dann noch mehr Angst und redete mir ein, dass die mysteriösen Ereignisse nur von kurzer Dauer sein würden.
    Das stärkste Gefühl aber in jenen ersten Tagen und Wochen der Katastrophe war, heute erst ist mir dies wirklich klar: die Schuld . Meine Schuld gegenüber Marie. Zweimal wischte ich die Pillen wieder zusammen und schmiss sie aus dem Fenster. So einfach durfte ich mich nicht davonmachen.
    Und wenn ich heute ganz tief in mich hineinschaue, hatte ich, ohne mir dessen bewusst zu sein, schon am ersten Tag nach dem dramatischen

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