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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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Schnee, der Nebel – all das ist nichts gegen die Dunkelheit. Die Dunkelheit ist das Bitterste.
    Gestern habe ich in einem Reisebericht gelesen, dass die nördlich des Polarkreises lebenden Menschen zu schweren Depressionen neigten, weil sie im Winter über Monate in vollkommener Finsternis ausharren mussten. Umso größer war ihr Glück, wenn sich im Frühjahr die ersten Sonnenstrahlen am Horizont zeigten und das Land bis hoch in den Norden hinauf sanft berührten.
    Manchmal lege ich zehn große Taschenlampen nebeneinander in mein Bücherregal, schalte sie ein und setze mich davor. Ich genieße dann die künstliche Helligkeit, starre regelrecht in die Lichtkegel und höre dabei Musik.
     
    Ich habe es übrigens mittlerweile aufgegeben, mit meinem Weltempfänger nach irgendwelchen Signalen zu fahnden. Außer Rauschen ist auf der gesamten Skala, auf allen Wellen absolut nichts zu hören. Nichts. Nie.
     
    Mein Schlaf ist ruhiger geworden. Ich habe weniger schlechte Träume.
     
    Seit ein paar Tagen lese ich Igor am Abend immer ein Märchen vor.
    Wie lange werde ich wohl noch wissen, wann Abend ist, wann Morgen, welches Datum wir haben? Momentan gelingt mir noch die Orientierung an meinem Kalender, und ich achte sorgsam darauf, die Uhren mit neuen Batterien zu füttern. Aber wie wird es nächstes Jahr sein? Dann habe ich keinen Kalender mehr. Die Zeit könnte immer mehr zerfließen. Eigentlich wäre das auch egal. Aber nein!
    Ich brauche Strukturen für mein Leben. Dazu gehören meine Rituale und eben auch die Uhrzeit, die Wochentage, die Monate. Ich werde mir Ende des Jahres selbst einen Kalender entwerfen – aber stopp! Gerade sehe ich, dass dies gar nicht nötig sein wird, denn auf der Rückseite meines Schreibtischkalenders ist bereits das nächste Jahr verzeichnet.
    Also: die Märchen. Es macht mir Spaß, sie Igor vorzulesen. Ich glaube, Die Schneekönigin gefällt ihm besonders gut, aber auch Der Mönch und das Vöglein. Und schon zweimal habe ich ihm Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern vorgetragen. Jetzt gleich wird er Die Boten des Todes hören.
     
    Zwei Stunden später.
    Igor ist ein guter Zuhörer! Nur die Antworten, so ich ihn etwas frage, lassen auf sich warten. Und immer scheinen seine weißen Augen, die in Wirklichkeit Ausschnitte meiner Raufaserwand sind, kühl und nachdenklich durch mich hindurchzublicken (denn Igor ist ja eine Maske mit herausgesägten Augenschlitzen). Was ich ihn schon alles gefragt habe!
    Gibt es Parallel-Universen? Wenn ja, wie viele – und warum so viele?
    Ist das Weltall begrenzt? Falls ja, was kommt danach?
    Wo ist das All entstanden? Und was war dort vorher?
    Wer oder was hat es warum entstehen lassen? Oder könnte es sogar aus dem Nichts entstanden sein? Wenn ja, wie wäre das möglich?
    Warum bin ich nicht in der Lage, »Raumlosigkeit« zu denken?
    Gibt es irgendwo Zeit, die ganz anders ist als die uns bekannte Zeit?
    Warum bin ich nicht in der Lage, »Zeitlosigkeit« zu denken?
    Welche ethischen Werte haben Außerirdische? (Ich setze extraterrestrisches Leben mal voraus.)
    Sind alle Außerirdischen sterblich – so wie wir?
    Könnte es vielleicht Feuerwesen geben, die auf unserer Sonne oder anderen Sonnen leben?
    Was ist Feuer eigentlich? Und was ist Wasser?
    Gelten wirklich im ganzen Kosmos dieselben physikalischen Gesetze?
    Könnte es sein, dass irgendetwas, uns gänzlich Fremdes, sich noch schneller fortzubewegen vermag als das Licht?
    Warum gibt es Leid? Und gibt es Leid überall im Universum?
    Was ist die stärkste Kraft in der Welt?
    Warum bleibt kein Ding immer gleich?
    Was ist wirklich? Gibt es gar mehrere Wirklichkeiten?
    Und was ist mit der Wahrheit? Ist sie einzigartig?
    Existiert ein Jenseits? Ein Nirwana? Wenn ja, wozu? Und gibt es dort Bewusstsein?
    Wie erklärt man einem Taubgeborenen Musik?
    Wie einem Blindgeborenen Farben?
    Wie würden wir unsere Welt wahrnehmen, wenn wir, sagen wir mal, neun Sinne hätten?
    Könnten wir dann vielleicht Farben hören? Töne sehen oder die Zeit schmecken?
    Ist der Zustand vor unserer Geburt gleichzusetzen mit dem nach unserem Leben? …
     
    Und so weiter – und so weiter.
    Igor kann man alles fragen.

23. EINTRAG
    Irgendetwas passiert draußen. Aber ich weiß nicht, was. Es ist Nachmittag, 16.20 Uhr. Ich sitze am geschlossenen Fenster meines Wohnzimmers und blicke hinaus.
    Seit einer Woche ungefähr habe ich die Gardine nicht mehr zugezogen. Obwohl der schwarze Nebel vor der Fensterscheibe seine Bedrohlichkeit

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