Der Tag, an dem du stirbst
sein.»
«Was ist nach den Schüssen passiert?»
«Die Täterin hat sich dem Kleinen vorgestellt, ihm gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, und ist dann gegangen.»
«Welchen Weg hat sie eingeschlagen?»
«Sie ist auf der Stichstraße dort hinten nach links abgebogen. Der Junge hat sich zuerst nicht vom Fleck gerührt und ist dann zur Bibliothek zurückgelaufen. Seine Mutter hatte bereits das Personal alarmiert, weil sie ihren Jungen nicht finden konnte. Man hatte schon längst schließen wollen. Die Polizei war gerade gerufen worden, als der Junge die Treppe hochgerannt kam. Er war ganz außer sich, und auch die Mutter wurde hysterisch. Es dauerte fünf bis zehn Minuten, bis geklärt werden konnte, was geschehen ist. Die Beamten vor Ort sind sofort hierher und haben die Fahndung nach der Frau eingeleitet. Aber die ist bisher ergebnislos.»
Kein Wunder, dachte D.D. In Boston unterzutauchen war nicht schwer. Deshalb hatte ja auch Charlene Grant ihren Wohnsitz hierher verlegt.
«Die Täterin müsste doch eigentlich überrascht gewesen sein, dass der Mann aus dem Internet erst sechzehn Jahre alt ist», überlegte D.D. «Man sollte meinen, sie zögert, stellt Fragen, hat Bedenken. Aber nichts dergleichen. Ihre Theorie scheint also zuzutreffen. Sie hatte den jungen Mann über Facebook identifiziert und schon eine Weile im Visier. Vielleicht ist sie ihm auch schon auf anderen Streifzügen gefolgt. Weder sein Alter noch seine Vergehen haben sie überrascht. Sie hat mit beidem gerechnet.»
«Vorsatz», kommentierte O. «Strategische Planung.»
«Sie ist intelligent, kann mit Computern umgehen und hat Geduld.»
«Und sie verliert nicht die Kontrolle», fügte O dem Profil der Täterin hinzu. «Sie erschießt den Sechzehnjährigen und macht sich aus dem Staub. Keine Kollateralschäden, und um den Zeugen schert sie sich auch nicht. Sie taucht auf, schießt und verschwindet.»
«Wo ist der Zeuge jetzt?»
«Auf dem Rücksitz eines der Streifenwagen, zusammen mit seiner Mutter. Wir haben einen Spezialisten für die Vernehmung von Kindern ins Präsidium bestellt. Er müsste bald da sein.»
«Kann er schon Fragen beantworten?»
O zuckte mit den Achseln. «Als ich ihn vorhin sah, hatte er sich an seiner Mutter festgeklammert und sagte kein Wort.»
«Ich würde gern versuchen, mit ihm zu reden.»
O zögerte. D.D. schaute sie an. «Was ist?»
«Haben Sie Erfahrung mit Kindern?»
«Ich hatte einmal einen Fall mit einer vierjährigen Hauptzeugin.»
«Hören Sie, Sie sind vielleicht länger im Dienst und erfahrener als ich», entgegnete O. «Aber ich habe mit Sexualdelikten zu tun, und in den meisten Fällen, die ich zu bearbeiten habe, müssen Kinder vernommen werden. Glauben Sie mir, bei solchen Vernehmungen kann einiges schiefgehen, und wenn etwas schiefgeht, steht das ganze Verfahren auf der Kippe. Es könnte am Ende passieren, dass wir unsere Hauptverdächtige Charlene soundso Grant laufen lassen müssen.»
«Ich werde mich vorsehen.»
Detective O hatte weiterhin Bedenken, wie es schien, wandte sich schließlich aber vom Tatort ab und steuerte auf die Streifenwagen zu, die mit blinkenden Alarmlichtern in der Stichstraße standen. Der kleine Junge und seine Mutter hockten auf der Rückbank des ersten Wagens. Die Tür stand offen, vielleicht weil man verhindern wollte, dass sich die beiden wie Festgenommene fühlten. Allerdings waren sie so auch der Kälte ausgesetzt; beide zitterten. Die Mutter hielt einen dampfenden Pappbecher, wahrscheinlich mit Kaffee, trank aber nicht. Vielleicht reichte es ihr, dass er ein wenig wärmte.
Der kleine Junge blickte nicht auf, als die beiden Frauen vor der offenen Tür auftauchten. Er lehnte an seiner Mutter, fast verloren in einem viel zu großen schwarzen Wintermantel, mit Mütze, Schal und Handschuhen. D.D. sah ein bleiches, verkniffenes Gesicht und dunkle Augen, dann drehte der Junge den Kopf weg.
Die Mutter hatte den linken Arm um ihren Sohn gelegt. Auch sie war bleich und wirkte mit ihren aufeinandergepressten Lippen genauso unzugänglich wie der Junge.
«Sergeant Detective D.D. Warren», stellte sich D.D. vor. Sie ging davon aus, dass ihnen Detective O schon bekannt war.
«Jennifer Germaine.» Die Frau nickte nur, weil sie keine freie Hand hatte. Sie stupste ihren Sohn an, doch der blickte immer noch nicht auf. «Mein Sohn Jesse», sagte sie einen Moment später.
«Wie geht es dir, Jesse?», fragte D.D.
Der Junge antwortete nicht.
«Verstehe», sagte sie.
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