Der Tag, an dem du stirbst
«Mir geht es auch nicht besonders.»
Er wandte sich ihr halb zu und beäugte sie misstrauisch.
«Ich wollte eigentlich mit meiner Mutter zu Abend essen. Sie ist von Florida gekommen, um mich zu sehen. Aber ich musste gehen. Das nimmt sie mir wohl übel, und es fühlt sich nicht gut an, wenn meine Mutter nicht zufrieden mit mir ist.»
Jesses Unterlippe zitterte.
«Aber ich weiß, dass sie Verständnis für mich hat», fuhr D.D. fort. «Das ist das Schöne an Müttern. Sie haben uns immer lieb, nicht wahr?»
Jennifer drückte ihren Sohn fester an sich.
«Es tut mir leid», flüsterte der Junge. Seine Stimme war rau, vielleicht vom Schreien.
«Was tut dir leid?», fragte D.D. ruhig.
«Ich war ungezogen.»
«Warum sagst du das?» Das kleine Einmaleins der Vernehmung von Kindern: offene Fragen. Keine Unterstellungen, keine Suggestivfragen.
«Ich soll nicht mit Fremden online reden, soll mich schon gar nicht mit ihnen treffen. Das hat mir meine Mommy verboten. Es tut mir leid, Mommy, es tut mir wirklich leid.»
Der kleine Junge fing zu weinen an. Seine Mutter streichelte seinen Kopf und flüsterte ihm tröstende Worte ins Ohr.
«Gut, dass du sofort zur Bibliothek zurückgelaufen bist», sagte D.D.
Der Junge blickte auf.
«Das war schlau, aber bestimmt gar nicht so einfach. Du musstest ja zurückfinden, was mir im Dunkeln sehr schwergefallen wäre. Aber du hast es geschafft. Du hast den Weg zurück zu deiner Mutter gefunden. Großes Kompliment. Bist du schon einmal allein in der Stadt unterwegs gewesen, Jesse?»
Der Junge schüttelte den Kopf.
«Respekt. Deine Mom kann stolz auf dich sein.»
Seine Mutter nickte wieder und tippte mit der Stirn auf die Mütze ihres Sohnes.
«Du könntest mir helfen, Jesse. Es dauert nicht lange. Bleib einfach im Arm deiner Mutter und denk ein bisschen für mich nach.»
Der Junge nickte kaum merklich.
«Kannst du uns erzählen, was am Abend passiert ist, Jesse? Mit deinen eigenen Worten. Lass dir Zeit.»
Jesse zögerte. Seine Mutter beugte sich über ihn. «Jenny und Jesse gegen den Rest der Welt», flüsterte sie ihm zu, wie D.D. hörte. «Denk daran, Jenny und Jesse gegen den Rest der Welt. Halt meine Hand. Wir schaffen das.»
Der Junge nahm ihre Hand und fing an zu sprechen.
Es war eine einfache Geschichte. Ein sechzehnjähriger Junge namens Barry spielte nachmittags online und gab sich als Pink Poodle aus. Er sammelte ordentlich Punkte und machte auf sich aufmerksam. Er schickte E-Mails an andere Spieler und bot seine Freundschaft und Hilfe an.
Jesse war darauf eingegangen.
Er hatte sich mit Pink Poodle in der Bibliothek verabredet und erwartet, dort ein Mädchen anzutreffen. Auch als er sich darin getäuscht sah, war er nicht stutzig geworden. Erst als der Junge in diesem Hinterhof vor ihm stand, hatte er es mit der Angst zu tun bekommen und war so entsetzt gewesen, dass er keinen Mucks von sich geben und auch nicht weglaufen konnte.
Über die Frau wusste er nicht viel zu sagen. Sie war mit einem Mal dagewesen und hatte ihn mit ihrer Pistole erschreckt. Ansonsten konnte er sich nur an ihre Augen erinnern. An hellblaue Augen.
«Verrückt, wie die aussahen», flüsterte Jesse. «Unheimlich, wie blaue Katzenaugen.» Er blickte wieder auf. «Ich glaube, sie ist ein Alien oder Roboter oder Monster. Sie hat ihm weh getan. Und ich … ich war froh darüber.»
Er senkte den Blick wieder und vergrub sich im Arm seiner Mutter.
«Tut mir leid», schluchzte der Kleine, die Stimme gedämpft von ihrem Mantel. «Ich war ungezogen. Dann war da dieser Knall, und er ist umgefallen … Es tut mir leid. Mommy, das kommt nie wieder vor. Versprochen.»
D.D. schaute weg. Sie wusste nicht, mit wem sie mehr Mitleid hatte, mit dem Jungen oder der Mutter, die ihn in ihrem Arm wiegte und zu trösten versuchte, obwohl ihr klar sein musste, dass das nicht reichte.
«Ich würde ihn jetzt gern nach Hause bringen», sagte sie. «Es ist spät. Er muss morgen wieder zur Schule.»
Dann verzog sich ihr Gesicht, denn sie schien nun zu begreifen, dass sie und ihr Junge so bald nicht zur Normalität zurückkehren könnten. Sich von dem zu erholen, was an diesem Abend geschehen war, würde länger dauern als eine geruhsame Nacht.
Detective O trat vor und erklärte, dass der Junge so schnell wie möglich von einem Spezialisten vernommen werden müsse, um zu verhindern, dass wichtige Details in Vergessenheit gerieten.
Aber Jesses Mom schüttelte den Kopf, und es wurde klar, dass sie ebenso unter
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