Der Tag, an dem du stirbst
Schock stand wie ihr Sohn.
D.D. drückte ihr die Hand. «Es wird nicht mehr als eine Stunde dauern», versuchte sie die Frau zu ermutigen. «Danach bringt ein Kollege Sie nach Hause. Morgen wird es Ihnen schon besser gehen als heute und von Tag zu Tag noch ein bisschen besser.»
Die Frau schaute ihr ins Gesicht. «Ich liebe ihn so sehr.»
«Ich weiß.»
«Ich würde alles für ihn tun. Ich würde für ihn sterben. Ich musste in der Bibliothek für meine Ausbildung etwas tun, und er war nur eine Viertelstunde ohne Aufsicht. Zum ersten Mal so lange, aber er ist doch eigentlich auch alt genug. Er will seine Mutter nicht ständig um sich haben, und ich will, dass er Selbstbewusstsein entwickelt. Ich will, dass er sich sicher fühlt.»
«Ich weiß.»
«Ich würde alles für ihn tun.»
«Die Vernehmung wird helfen», versicherte ihr D.D. «Wenn Jesse seine Geschichte erzählt, kann er damit besser umgehen. Sie verliert dann für ihn den Charakter eines Verhängnisses und wird stattdessen zu einer Erzählung, die er unter Kontrolle hat. Wir kennen das aus der Erfahrung mit anderen Kindern. Reden hilft. Weniger gut ist es, alles für sich zu behalten.»
Jenny seufzte und legte ihre Wange auf den Kopf ihres Jungen. «Jenny und Jesse gegen den Rest der Welt», murmelte sie wieder.
«Sie sind eine gute Mutter.»
«Ich hätte mehr tun müssen.»
«Welche Mutter würde das jetzt nicht denken?»
«Haben Sie Kinder?»
«Einen zehn Wochen alten Sohn, der schon jetzt meine große Liebe ist.»
«Was würden Sie an meiner Stelle tun?»
«Ich werde hoffentlich nie in eine vergleichbare Situation geraten.»
«Bitte …»
D.D. zögerte und antwortete dann so ehrlich, wie es ihr möglich war: «Ich würde ihm helfen, Selbstbewusstsein zu entwickeln. Was geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen. Es kommt darauf an, dass Jesse sich nicht mit der Opferrolle abgibt, sondern die Erfahrung macht, dass er über sein Leben bestimmt, dass er sich stark fühlt und in Sicherheit wähnen kann.»
Die Frau starrte D.D. an und schien ihr Gesicht zu studieren. «Wir fahren mit in die Polizeizentrale», entschied sie. «Dort stellen wir uns dann den Fragen Ihres … Experten.»
«Es wird auch ein Vertreter der Opferhilfe da sein», sagte D.D. «Haben Sie keine Scheu, sie in Anspruch zu nehmen.»
D.D. reichte ihr ihre Visitenkarte, richtete sich dann auf und steckte die kalten Hände in die Taschen.
«Danke für deine Hilfe, Jesse», sagte D.D. «Dass du auf meine Fragen geantwortet hast, weiß ich sehr zu schätzen.»
Der Junge schwieg.
Der Mutter sagte sie: «Kümmern Sie sich um ihn.»
«Oh, das werde ich, Detective. Darauf können Sie sich verlassen.»
D.D. trat von der Tür zurück und ging auf die Kollegin von der Sitte zu, als plötzlich ein erschrockener Ruf zu hören war. Die beiden Frauen drehten sich um und sahen, wie einer der uniformierten Beamten mit fuchtelnder Hand auf sich aufmerksam machte.
«Detectives!», rief er. «Schnell! Das müssen Sie sehen.»
D.D. und O tauschten einen kurzen Blick und machten sich auf den tückischen Weg durch die vereiste Gasse. Der Officer hatte die Beifahrertür seines Streifenwagens geöffnet und gestikulierte hektisch.
«Da, auf dem Armaturenbrett», sagte er. «Nicht anfassen. Ich habe den Zettel daraufgelegt, um ihn später den Kollegen von der Spurensicherung zu geben. Natürlich lief die Heizung, und als ich noch mal draufschaute …»
Es handelte sich offenbar um die Nachricht der Täterin, nur steckte sie diesmal in einer klaren Plastikhülle. Ein Blatt Papier, beschrieben in der vertrauten Handschrift mit ihren präzisen, elegant gerundeten Buchstaben. Doch als D.D. näher hinsah, entdeckte sie noch weitere Schriftzeichen, die so klein und krumm waren, dass sie sie auf den ersten Blick für Flecken gehalten hatte.
Sie hob den Kopf und schaute den uniformierten Kollegen an. «Haben Sie irgendetwas damit angestellt?»
Sie trat zur Seite, um Detective O einen Blick auf den Zettel werfen zu lassen.
«Nein, nein», versicherte ihr Officer Piotrow hastig. «Es ist wegen der Heizung. Ich hatte den Zettel nur kurz in der Hand und dachte, ich sehe nicht richtig. Denn plötzlich verschwanden diese Buchstaben. Und als ich ihn wieder auf das warme Armaturenbrett legte …»
D.D. spürte, wie ihr Puls einen Schlag zulegte.
«Ich glaube, die sind mit Zitronensaft geschrieben», sagte der Officer. «Mein Sohn hatte mal dieses Experiment in der Grundschule. Man kann
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