Der Tag, an dem du stirbst
fünfzehn Minuten. Viele gehen dann eine rauchen. Charlene nicht. Sie ist Fitnessfanatikerin.»
«Und wenn sie mal austreten muss?»
«Dann gibt sie Code zehn-sechs ein und verschwindet kurz.»
«Aber wenn sie allein arbeitet, wer nimmt dann die Anrufe entgegen?»
«Der diensthabende Sergeant auf der Wache.»
«Also ist sie nachts doch nicht allein.»
«Wenn man’s genau nimmt, ja. Aber sie sitzt in einem abgeschlossenen Raum, einer ehemaligen Abstellkammer, die jetzt vollgepackt ist mit Monitoren, Telefonapparaten und Funkgeräten.»
«Würde es auffallen, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlässt? Angenommen, sie checkt ein und würde sich heimlich davonschleichen …»
«Unmöglich.»
«Warum? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, können sich der Sergeant und sie nicht sehen.»
«Aber sie können einander hören. Charlene steht ständig in Kontakt mit unseren Streifenbeamten. Sie melden sich in regelmäßigen Abständen bei ihr, und sie meldet sich bei ihnen. Über Funk, versteht sich. Neun-sechsundzwanzig an Leitstelle – in der Art. Wie lang ist es eigentlich her, dass Sie Streife gefahren sind, Detective?»
«Eine Weile.»
«Wir haben regen Funkverkehr. Wie gesagt, Charlene steht ständig mit unseren Kollegen in Kontakt. Und weil sie immer am Ball bleiben muss, hat sie ein schnurloses Headset, mit dem sie auch aufs Klo gehen könnte. Sogar auf dem Parkplatz oder auf der Straße hätte sie damit Empfang.»
«Verstehe, wenn Charlene Dienst hat, hat sie Dienst.»
«Genau.»
D.D. dachte nach. Was Shepherd sagte, ergab Sinn, konnte Charlene aber weder be- noch entlasten.
«Kann ich Sie was fragen?»
«Nur zu.»
«Warum ermitteln Sie gegen Charlene? Ich arbeite zwar nicht mit ihr zusammen, weiß aber, dass sie eine verlässliche und vertrauenswürdige Kraft ist. Wir mögen sie.»
«Aus Ihren Worten schließe ich, dass von Ihren Kollegen sie niemand wirklich kennt.»
«Nachtschichten sind kein Kaffeekränzchen.»
«Haben Sie sich vor ihrer Einstellung über sie erkundigt?»
«Selbstverständlich.»
«Und da war nichts, was sie hat stutzig werden lassen?»
«Sie hatte ausgezeichnete Referenzen von ihrer vorherigen Arbeitsstelle in Colorado …»
«Was?»
«Sie hat vorher in Arvada, Colorado, gearbeitet. Es war ihr erster Job in einer Polizeileitstelle.»
D.D. spürte einen kalten Schauer im Rücken. «Wie weit liegt Arvada von Boulder entfernt?»
«Was weiß ich? Ich komme aus Revere.»
D.D. spitzte die Lippen. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. In Boulder war eine Leiche aufgefunden worden, und alles deutete darauf hin, dass es sich um Charlenes tote Mutter handelte. Charlene hatte an diesem Tag davon erfahren und mit keiner Silbe erwähnt, dass sie im selben Staat gelebt hatte. Was sollte man davon halten?
Ganz zu schweigen davon, dass in den vergangenen zehn Jahren Charlenes Mutter und ihre beiden besten Freundinnen gestorben waren. Mit anderen Worten, eine Frau hatte eine Spur von drei Leichen in drei verschiedenen Staaten hinterlassen. D.D. fand, dass es ziemlich riskant war, in Charlene Grants Nähe zu geraten. Ein vorzeitiges Ende wäre nicht unwahrscheinlich, und schlimmer noch: Durch ihr lückenhaftes Gedächtnis würde sie sich später nicht einmal mehr an einen erinnern.
Man kann manches wissen und gleichzeitig nicht wissen, hatte sie gesagt. So bewältige man eine traumatische Kindheit.
Dissoziative Identitätsstörung. Unterschiedliche Persönlichkeiten erinnerten sich nur an Einzelteile des individuellen Puzzles, hatte Detective O gesagt. Es erklärte Charlenes Gedächtnislücken, die widersprüchlichen Botschaften der Nachrichten sowie die erstaunliche Fähigkeit der jungen Frau, die Morde an ihren Freundinnen zu beklagen und selbst zu töten.
D.D. wälzte Charlenes Aussagen und Os Theorie in ihrem Kopf. Beides missfiel ihr.
«Ich will diese Waffe haben», murrte sie frustriert.
«Tut mir leid, Detective. Mehr kann ich für Sie nicht tun.»
«Ja, ja.» D.D. stellte noch ein paar Fragen, plauderte aus dem Nähkästchen, und als sich abzeichnete, dass aus Shepherd nicht mehr herauszuholen war, beendete sie das Gespräch.
Jack war eingeschlafen, das Fläschchen lag neben ihm. Sie stand aus dem Schaukelstuhl auf, stellte die leere Flasche auf den Teetisch und genoss es für einen Moment, ihren Sohn an sich zu drücken.
D.D. atmete tief durch und befreite sich von allen Gedanken an Charlene Rosalind Carter Grant, Kinderschänder und Mörder bester
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