Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
Vom Netzwerk:
auch Ihre Kinder umbringen.»
    «Ich weiß.»
    Michael hatte seiner kleinen Schwester den Arm über die Schulter gelegt. Er schaute seine Mutter an und sah niedergeschlagen aus.
    «Mommy?» Es war Mica.
    Tomika blickte auf sie herab und schluchzte noch heftiger. «Ich gehe nicht zurück, versprochen. Ich werde stark sein. Ich passe von jetzt an besser auf uns auf. Du kannst mir glauben, Schatz.»
    Weil sie ihre Hände noch nicht richtig gebrauchen konnte, half ich ihr mit den neuen Ausweisen. Ich öffnete ihre Brieftasche und tauschte den alten Führerschein gegen den neuen aus, den J.T.s Kontaktmann mit einem ihrer Facebook-Fotos versehen hatte. In dreißig Sekunden wurde aus Tomika Miller Tonya Davis. Ich schlang meinen türkisfarbenen Schal um ihren Hals, setzte ihr eine dunkle Sonnenbrille auf und ließ ihr hochgestecktes Haar unter einer hellen Mütze verschwinden.
    Für Michael und Mica hatten wir uns etwas Einfacheres ausgedacht. Michael trug eine Perücke, die ihn zu seiner siebenjährigen Schwester machte, während Mica zum vierjährigen Bruder wurde, indem ihr der Pferdeschwanz abgeschnitten worden war.
    Falls Stan Miller später am Busbahnhof Fragen stellte, würde sich niemand an eine Frau mit älterem Sohn und jüngerer Tochter erinnern, allenfalls an zwei Frauen in Begleitung eines älteren Mädchens und jüngeren Jungen. Ich kümmerte mich auch um die Tickets, damit Tomika ihre bandagierten Hände in der Tasche behalten konnte. Auch wenn sich Stan danach erkundigte, würde ihm niemand weiterhelfen können.
    Unter dem Vorwand, etwas vergessen zu haben, verließ ich im letzten Moment den Bus, steckte aber Michael schnell noch ein kurz zuvor bei Wal-Mart gekauftes Prepaid-Telefon in die Tasche. Es war nur eine einzige Nummer eingespeichert – meine eigene. «Ruf mich an. Jederzeit», flüsterte ich ihm ins Ohr. «Ich werde da sein, Michael. Verlass dich auf mich.»
    Dann war ich draußen. Gleich darauf fuhr der Bus los. Für Tomika Miller und ihre beiden Kinder fing ein neues Leben an.
    Bis sich ihnen die ersten Schwierigkeiten in den Weg stellen und Tomika den dringenden Wunsch verspüren würde, ihren Mann anzurufen. Möglich auch, dass sie sich in einem verzweifelten Moment einer Freundin anvertraute, über die eine dritte Person von ihrer Geschichte erführe und so weiter, bis schließlich Stan Miller Bescheid wüsste – wenn er ihr nicht von allein auf die Spur kam.
    Dann würde er vielleicht tatsächlich eine Axt mitbringen.
    Und vielleicht würde mich auch diesmal Michael anrufen, mich anflehen und verzweifelt nach Hilfe schreien.
    Vielleicht wäre es am 21. Januar nach zwanzig Uhr.
    Mein Handy würde klingeln und klingeln und klingeln. Und da wäre niemand, der antwortete.
    Mir blieben noch genau zweiundsiebzig Stunden und fünfzehn Minuten.
    Was hätten Sie an meiner Stelle getan?
    Ich fuhr zurück zu Tomikas alter Wohnung. Zurück zu Stan Miller.

    Es gibt Seiten an mir, von denen ich bis vor einem Jahr selbst nichts wusste. Ich habe oder hatte schreckliche Hemmungen zuzuschlagen. Als mich mein Boxtrainer das erste Mal aufforderte, mit ihm in den Ring zu steigen, war ich nicht in der Lage, mich zu wehren. Schattenboxen? Kein Problem. Arbeit am schweren Sandsack? Klar, immer. Am Punchingball machte sie sogar Spaß. Aber jemanden zu schlagen, mit dem Arm auszuholen, das ganze Gewicht in die Faust zu legen und sie dem Gegner mit voller Wucht in den Bauch, aufs Kinn, die Nase oder das rechte Auge zu rammen – das brachte ich einfach nicht über mich.
    Ich tanzte durch den Ring. Ich wich aus, duckte mich, hob die Deckung, sprang zur Seite. Alles, was man machen musste, tat ich, nur schlagen nicht.
    Nach all den Jahren, in denen ich mich tapfer zu behaupten versucht hatte, schaffte ich es nicht zurückzuschlagen.
    Meine Mutter hatte mich perfekt dressiert.
    Mein Trainer Dick, früher dreimaliger Weltmeister, pflanzte mir am Ende der sechsten Trainingsstunde aus reinem Frust eine rechte Gerade aufs Auge. Ich hatte den Eindruck, das Jochbein würde zerspringen. Das Auge füllte sich mit Tränen. Ich wich zurück, starrte ihn fassungslos an und konnte nicht glauben, dass er mich tatsächlich geschlagen hatte.
    Doch er drosch weiter auf mich ein, traf das andere Auge, Schulter, Kinn und Solarplexus. Er hörte gar nicht mehr auf.
    Und ich nahm alles hin. Den Kopf geduckt, die Fäuste vorm Gesicht, die Ellbogen an den Rippenkasten gepresst, ließ ich mich von ihm verprügeln.
    Tapferes kleines Mädchen.

Weitere Kostenlose Bücher