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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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Lebens auf der Flucht sein würde.
    Wenn ich ehrlich bin, konnte ich mir eine solche Zukunft gar nicht wirklich vorstellen. So seltsam es klingt, aber mein Box-, Schieß- und Lauftraining hatte etwas in mir geweckt, nämlich einen gewalttätigen Zug, der mir achtundzwanzig Jahre lang gar nicht bewusst gewesen war. Jetzt aber legte ich es darauf an, verlorene Zeit gutzumachen.
    Ich trat durch die Hintertür ins Freie, ging ums Haus herum und war froh, dass Tulip nicht auf der Eingangsveranda auf mich wartete. Ich hätte sie ohnehin nicht mit auf meine nächtliche Mission nehmen können.
    Ich schlang die Jacke fester um mich und steckte das Kinn in den Kragenausschnitt, um mich vor der beißenden Kälte zu schützen. Zehn Minuten später erreichte ich die U-Bahn-Station am Harvard Square. Auf den Zug musste ich weitere acht Minuten warten, aber dann ging es endlich weiter.
    Rushhour. Die U-Bahn war zum Bersten voll. Ich stand, die Hand an der metallenen Haltestange im Gang, schwankte im Rhythmus des Wagens und inhalierte die unterirdischen Düfte von Schweiß und Urin und feuchter Wolle. Ein namenloser Fahrgast unter vielen.
    Leise summte ich vor mich hin; es war das einzige Zugeständnis an meine zunehmende Nervosität.
    Ich hatte noch fünfundsiebzig Stunden zu leben.
    Wie hätten Sie sich an meiner Stelle verhalten?

    Der Himmel war pechschwarz, als ich an die Oberfläche zurückkehrte und das quietschende Drehkreuz passierte. Die Stufen führten hinauf in einen noch dunkleren, stilleren Teil Bostons. Die Straßenlaternen hatten es schwer, gegen die erbarmungslose Winternacht anzukommen, zumal sie allzu weit voneinander entfernt standen und auf dem gefrorenen Gehweg nur kleine Lichtpfützen aufschimmern ließen. Die Schatten dazwischen schreckten jede Frau ab, die allein unterwegs war. Ich steckte den türkisen Schal, Mütze und Handschuhe in die Umhängetasche und schob sie in den Rücken. Das Holster und die Pistole darin brauchte ich nicht mehr zu verstecken. In dieser Gegend trug fast jeder eine Waffe. Anpassung war das Gebot der Stunde.
    Sogar der Schnee war hier hässlich. Die Berge meiner Heimat und der Harvard Square, wo ich nun lebte, waren von einer dicken Schneeschicht überzogen, wie von Norman Rockwell gemalt. In diesem Viertel der Stadt war der Schnee nur eine Art von Müll, grau und rußig, voller Hundepisse, weggeworfener Strohhalme, Bierdosenlaschen und Zigarettenkippen. Da dachte man nicht an Weihnachtslichter, wohlige Kaminfeuer oder heiße Schokolade, sondern daran, dass Mutter Natur in Wirklichkeit eine echte Schlampe war.
    Ich folgte einer Wegbeschreibung, die ich im Gedächtnis abgespeichert hatte, zu einer mir unbekannten Adresse, die nirgends von mir notiert worden war. Wiederum aus Vorsichtsgründen.
    Die Gehwege waren nicht leer. In einem innerstädtischen Bezirk sind sie das nie. Ich kam an herumlungernden schwarzen Jugendlichen vorbei, die ihre Baseballkappen verkehrt herum auf dem Kopf hatten, in gesteppten Nylonjacken steckten, die vier Nummern zu groß waren, und Goldkettchen trugen. Manche lachten, manche rauchten. Manche rempelten sich gegenseitig an, vielleicht aus Spaß, vielleicht auch nicht.
    Sie alle blickten verdutzt auf. Eine weiße Tante in ihrer Straße!
    Ich lächelte, legte einen Finger auf die Lippen und hauchte ein leichtes Pssst.
    Sie verstummten schlagartig und wichen vor mir aus.
    Vielleicht lag es an meinem Blick. Jeder von ihnen kannte diesen Blick, denn sie studierten ihn tagtäglich vor dem Spiegel ein, mehr oder weniger erfolgreich.
    Wissen Sie eigentlich, wie es sich anfühlt, wenn man nichts mehr zu verlieren hat?
    Befreiend.
    Rauschhaft.
    Gefährlich.
    Um genau 18:02 Uhr erreichte ich mein Ziel.
    Noch vierundsiebzig Stunden.
    Was hätten Sie an meiner Stelle getan?

    Tomika wartete im Foyer auf mich. Sie hatte die Kinder so dick eingepackt, dass nur die Augen zu sehen waren. Michael, der ältere Junge, trug einen roten Rucksack. Mica, das vierjährige Mädchen, hielt eine Decke und einen Teddybär an sich gedrückt. Tomika war mit dem Rest beladen. Sie hatte sich zwei Matchbeutel über die Schultern gehängt. Sechsundzwanzig Lebensjahre und acht Jahre Ehe steckten in diesen beiden Beuteln.
    Ich geriet ins Wanken, stolperte über die Schwelle und konnte mich noch gerade eben am Türrahmen festhalten.
    Dann tat ich etwas, das selbst ich merkwürdig fand. Ich atmete aus, um zu sehen, wie mein Atem in der eiskalten Luft kleine Nebelwolken hervorbrachte.
    Es

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