Der Tag an dem ich erwachte
Zehennägeln, die teilweise ins Fleisch eingewachsen sind. Ellenlange Arme, weich und blass, wie zwei Regenwürmer, raue Hände mit knochigen Fingern und bis auf die Haut abgekauten Fingernägeln, Rippen, die sich scharf unter der trockenen, schuppigen Haut abzeichnen. Meine schulterlangen Haare sind nur noch eine verklebte, zähe Masse. Nein, es gibt hier nichts, was ich sehen möchte, entscheide ich mich spontan und blase die Kerze freiwillig aus. Durst. Lenk dich ab, denk nicht an Wasser! Denk an etwas anderes. An was? Weiß ich doch nicht, an irgendwas halt. Rede mit dir! Doch das Reden tut weh, so weh! Denk an Ihn. Ja, das ist eine gute Idee, denk an Ihn! Ist er überhaupt ein Mensch oder ist Er eine Art Gott, der dich für deine Sünden bestraft? Was für Sünden hast du begangen, dass Er dich so hart dafür bestrafen muss? Kommt Er morgen wieder? Hoffentlich wird Er kommen, doch wie viel Zeit muss noch vergehen, bis es endlich morgen ist? Er will dich nicht töten, nein, das will Er definitiv nicht, denn, wenn Er es wollte, hätte Er es schon längst getan. Er will nur dein Bestes, das versichert Er dir ja immer wieder! Und Er leidet mit dir, Er leidet sogar mehr als du. Er tut nur das, was Er tun muss, nur für dich!
Du kannst dich glücklich schätzen, dass Er sich um dich kümmert. Ach was, sei nicht albern! Wen willst du hier verarschen, doch nicht dich selbst! Halt, sei still, Er mag es nicht, wenn du dich so vulgär ausdrückst. Hör auf deinen Gebieter, gehorche ihm, und du wirst glücklich sein. Wann? In absehbarer Zeit, sagt Er, wenn du soweit bist. Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme… Stopp! Hatte Er nicht gesagt, ich soll damit aufhören? Weil Er jetzt mein Gott ist, der einzige und einzig wahre…
Die Tür geht auf, ich werfe mich auf den Boden und küsse die Spitzen Seiner Stiefel.
„Mein armer Liebling!“, sagt Er leise, seine tiefe, sanfte Stimme ist wie Musik in meinen Ohren. „Es tut mir so leid, wie ich dich gestern behandelt habe! Du darfst dich aufrichten und zu mir aufschauen.“
Ich tue wie mir geheißen und erblicke die gleiche maskierte Gestalt. Doch dieses Mal hält Er eine Flasche Wasser in der Hand.
„Das ist für dich, Kleines!“, sagt Er feierlich, „du hast es dir wahrhaftig verdient, weil du so ein braves Mädchen warst. Ich traue meinen Augen und meinen Ohren nicht, hat Er mich tatsächlich gelobt? Oh mein Gott, das hat Er! Ich will nach der Wasserflasche greifen, doch Er entzieht sie mir. „Nur noch eine Kleinigkeit, Liebes. Wie heißt du? Sag mir deinen Namen! Denk gut nach, bevor du sprichst. Wenn du richtig antwortest, gehört diese ganze Flasche dir!“
Ich strenge mich an, doch mein Kopf ist leer. Das einzige, woran ich denken kann, ist Wasser. Wasser, das durch meine trockene Kehle sickert und meinen leeren Magen füllt. Schließlich sage ich den ersten Namen, der mir einfällt, der mir entfernt bekannt vorkommt und kassiere schon wieder einen harten Stoß in die Rippen. Mit der Spitze Seines Stiefels. Echtes Leder, die allerbeste Qualität, denke ich bewundernd, bevor ich das Bewusstsein verliere. Als ich wieder zu mir komme, ist mein erster Gedanke, wie lange es wohl dauert, bis ein Mensch verdurstet, und mein zweiter, wieso ich noch leben will. Ich mache die Augen auf und sehe die Wasserflasche. Er hat sie dagelassen, bevor Er ging. Ich schluchze dankbar, mache sie mit zitternden Händen auf und leere sie in einem Zug. Mein Herr, mein Gebieter, denke ich voller Hingabe und fühle mich von einer überwältigenden Liebe ergriffen, die mein ganzes Wesen erfüllt. Ich kann mich wirklich glücklich schätzen.
4. Der dritte Tag nach meinem Erwachen
„Wach auf, Holly!“, hörte ich eine vertraute Stimme, die mich aus dem tiefsten Schlaf riss und mich aus meinem Alptraum befreite. Wer ist Holly, dachte ich schläfrig, bevor ich in Ryans ernstes Gesicht blickte. Mein Kurzzeitgedächtnis gehorchte mir nach wie vor brav und lieferte mir sofort die Bilder zu dem letzten Nachmittag, an dem Ryan und ich ein Liebespaar wurden. Ich schloss meine Arme um seine Schultern und küsste ihn auf den Mund. Er erwiderte meinen Kuss, doch gleich danach befreite er sich hastig aus meiner Umarmung. „Holly, wir müssen uns beeilen!“, sagte er mit Nachdruck. „Steh auf und folge mir! Mills hat einen Haftbefehl gegen dich erwirkt, du musst fliehen!“
Ehe ich wusste, wie mir geschah, stand ich auf und zog die Klamotten an, die Ryan mir
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