Der Tag an dem ich erwachte
macht sowieso keinen Unterschied: Er kann meine Gedanken lesen. Er kann alles.
„Du, Gebieter!“, antworte ich inbrünstig.
„So ist es brav, mein Mädchen!“, sagt Er zufrieden und stellt eine Wasserflasche auf den Boden. Ich reiße den Verschluss auf und trinke gierig.
„Sachte, mein Schatz“, ermah nt Er mich, „lass dir etwas für morgen übrig. Denn, egal, wie deine Antworten heute ausfallen, werde ich morgen nicht da sein.“
„Wo gehst du denn hin?“, frage ich ängstlich.
„Habe ich dir erlaubt, Fragen zu stellen?“, sagt Er, und ich verkrieche mich in die Ecke.
„Habe ich es dir erlaubt?“, wiederholt Er. Ich küsse die Spitzen seiner Stiefel und flüstere: „Verzeih mir, Gebieter!“
„Ich vergebe dir, Galatea“, sagt Er großzügig, und ich bin Ihm so dankbar, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Seit ein paar Tagen nennt er mich Galatea. Aber nur, bis Er einen richtigen Namen für mich ausgesucht hat, meint Er. Galatea war eine Statue, erklärte Er mir. Pygmalion, ein König auf Zypern und ein sehr begnadeter Künstler (natürlich nicht ganz so begnadet wie Er, wer ist schon so begnadet wie Er?) schuf sie aus Elfenbein. Sie war ihm so perfekt gelungen, dass er sich in sie verliebte. Aphrodite, die Göttin der Liebe, hatte Erbarmen mit Pygmalion und erweckte die Statue zum Leben. Nun bin ich Seine Galatea, und Er ist gerade dabei, mich zum Leben zu erwecken. „Ich bin dazu imstande, einen Menschen zu erschaffen, Galatea“, belehrt Er mich immer wieder, „also, bin ich ein Gott. Ich bin der einzige und der einzig wahre Gott für dich, deswegen sehe ich es nicht gern, wenn du zu einem anderen Gott betest. Das ist Blasphemie.“ Er lehnt sich an die modrige Wand, wobei sein Kopf fast die Decke berührt. Er ist so unheimlich groß! Der große Gott eben. „Da ich morgen nicht hier bin, lasse ich mir heute ganz besonders viel Zeit für dich“, sagt Er, und mein Herz fängt an zu rasen. „Du musst doch nicht nervös werden, Galatea!“, sagt Er sanft. „Nur konzentriert“, fügt Er etwas strenger hinzu, und ich versuche, mich so gut wie möglich zu konzentrieren. Weil ich weiß, wie viel davon abhängt. „Sieh es nicht als eine Prüfung an, Liebes“, fordert Er mich auf, Seine Stimme klingt angenehm entspannt, „sondern als eine nette Unterhaltung zwischen zwei Fremden. Stell dir vor, wir begegnen uns in einem Café. Wir kennen uns nicht. Also stelle ich dir ein paar Fragen, um dich kennen zu lernen.“ Ich schließe die Augen und versuche, die widerwärtigen Gerüche auszublenden. Stelle mir vor, dass es nach frisch aufgebrühtem Kaffee riecht. Und nach Shampoo, mit dem ich meine Haare kurz davor gewaschen hatte, und nach einem teuren, dezenten Parfüm. Er merkt natürlich sofort, dass ich im Geiste gerade in diesem imaginären Café sitze. „Was hast du an?“, fragt Er neugierig.
„Ein rotes, eng anliegendes Kleid“, antworte ich spontan, und Er lächelt.
„Gefällt mir gut“, sagt Er zufrieden, „rot ist definitiv deine Farbe. Außerdem setzt sie gewisse Signale. Deswegen bist du mir auch sofort aufgefallen. Also gehe ich auf dich zu, meine schöne Lady in red. Und du hebst die Augen von deiner Kaffeetasse hoch und erblickst den attraktivsten Mann, den du je gesehen hattest. „Wo kommst du her, schönes Kind?“, frage ich dich, und du antwortest…?“
„Bedford, England!“ Es kommt wie aus der Pistole geschossen, und Er nickt zufrieden.
„Gut, sehr gut. Das sitzt. Und dein englischer Akzent wird auch von Tag zu Tag besser!“, lobt Er mich, und ich strahle vor Freude. „Bedford? Hmmm… Nie davon gehört! Wo befindet es sich denn?“, fragt Er und beobachtet mich dabei ganz genau.
„Circa fünfzig Kilometer nördlich von London.“
„Braves Mädchen! Nun, erzähl mir doch etwas von dir. Bedenk dabei, dass ich dich überhaupt nicht kenne, also, will ich alles über dich wissen: Wo du zur Schule gegangen bist, wer deine Eltern sind, welche Musik du gern hörst, was du beruflich machst… Tu dir keinen Zwang an!“ Ich lasse mich von dem ruhigen Klang Seiner Stimme hinreißen und plappere einfach darauf los. Ein böser Fehler! Hatte Er nicht gesagt, ich soll mich konzentrieren? Plötzlich ist es still, so still, dass ich das Krabbeln der Insekten höre, meiner einzigen Mitbewohner, die diese schaurige Behausung mit mir teilen.
„Leider war es falsch!“, sagt Er voller Bedauern, dreht sich um und geht. Den Eimer lässt Er stehen, aber auch die
Weitere Kostenlose Bücher