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Der Tag an dem ich erwachte

Der Tag an dem ich erwachte

Titel: Der Tag an dem ich erwachte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emilia Miller
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Mutter?“, hackte ich nach und spürte plötzlich, wie wir die Rollen miteinander tauschten. Auf einmal war er der hilflose Patient, und ich seine Psychiaterin. So etwas haben Sie wohl nicht erwartet, Doktor Boyle, dachte ich mit einer seltsamen Genugtuung, die mich gleichzeitig stolz und verlegen machte. Doch Ryan schien es nichts auszumachen. Nichts schien ihm etwas auszumachen, er wirkte wie eine leblose Marionette, deren Lippen sich wie von allein bewegten.
    „Nein, ich denke nicht an sie“, sagte er leise und monoton. „Ich denke an die Zeit nach ihrem Tod. Als ich ihm ausgeliefert war.“
    „Wem warst du ausgeliefert, Liebling?“, fragte ich vorsichtig und beobachtete mit einer dunklen Faszination, wie seine Mundwinkel zuckten. Es war eine Mischung aus einem Lächeln und einer Schmerzgrimasse, wobei die letztere schließlich siegte.
    „Na, ihm .“
    „Meinst du etwa diesen komischen Priester, zu dem deine Tante dich schickte?“, dämmerte es mir, als ich mich daran erinnerte, was ich im Netz über Ryan gelesen hatte.
    „Diese verdammte Hure!“, knurrte er wütend, „ich hoffe, sie schmort in der Hölle!“
    „Sie war eine relig iöse Fanatikerin, nicht wahr?“, fragte ich, und er nickte heftig. „Sie hat dich so einer Art Exorzismus unterziehen lassen“, stellte ich fest, „was für eine Schande! Es tut mir leid, Ryan.“
    „Immer zu dieser Jahreszeit, wenn es regnet, überkommt es mich“, vertraute er mir an. „Da kommt das Ganze wieder hoch. Eig entlich ist es lächerlich, Gail“, sagte er verzweifelt, und mein Herz zog sich vor Mitleid schmerzlich zusammen. „Eigentlich hatte ich das Ganze schon längst verarbeitet. Doch bei diesem Wetter… Ich weiß nicht, warum…“ Langsam traute ich mich an ihn heran, ich streichelte seine Haare und massierte sanft seinen Nacken, und, als ich spürte, dass er sich langsam entspannte, wagte ich schließlich zu fragen: „Was hat er dir angetan, Liebling?“
    „Er hat mich in den Arsch gefickt“, sagte Ryan völlig unbeteiligt, als wollte er sich von dieser Erinnerung distanzieren.
    „Hat es sehr weh getan?“, fragte ich leise und hielt ihn in meiner Umarmung fest umklammert.
    „Ja, es war schrecklich“, antwortete er. Er schien nach wie vor abwesend. „Einfach nur schrecklich“, echote er seiner eigenen Stimme. Plötzlich sprang er auf, schubste mich unsanft von sich weg und schlug mit der Faust wütend auf den Tisch. „Ich bin keine Schwuchtel!“ Seine pl ötzliche Wut machte mir Angst.
    „Natürlich bist du es nicht, das weiß ich doch. Ich verstehe dich.“
    „Nein, du verstehest gar nichts!“, schrie er mich an und schlug wieder auf den Tisch: „Ich! Bin! Nicht! Schwul!“ Er sank auf den Stuhl und sackte förmlich zusammen, als hätte der letzte Schrei seine ganze Kraft aus ihm ausgepustet. „Ich war ihm ausgeliefert“, flüsterte er, „voll und ganz. Er trieb ein ganz mieses Spielchen mit mir. Am Anfang drohte er mir, allen davon zu erzählen, was mir miteinander machten. Genauso hatte er sich ausgedrückt: War wir beide miteinander machten , nicht, was er mir antat. Ich war viel zu verwirrt und zu verstört und schämte mich viel zu sehr, um zu verstehen, dass er es nie freiwillig jemandem erzählt hätte, und er nutzte meine Hilflosigkeit schamlos aus. Und dann…“ Ryan machte eine Pause und holte tief Luft. Sagte nichts. Holte wieder Luft. Sah aus dem Fenster und dann wieder zu mir, um gleich danach seinen Blick zu senken. „Ich habe noch nie jemandem davon erzählt, Gail“, sagte er schließlich, und ich schwieg. Ich traute mich kaum noch zu atmen. „ Er versuchte, mich davon zu überzeugen, dass es mir Spaß machte“, flüsterte er so leise, dass ich seine Worte kaum verstehen konnte. „ Er machte immer wieder an mir rum und brachte es tatsächlich fertig, dass ich ab und zu abspritzte. Und dann sollte ich mich bei ihm „revanchieren“, für die „Freude“, die er mir bereitete. Ich gehorchte ihm …“ Er hielt seinen Kopf zwischen den Händen und schluchzte. Geräuschlos. Ich fühlte seinen Schmerz so intensiv, dass auch ich weinen musste, als ich an den kleinen Jungen dachte, der Ryan damals war und an das, was dieses unschuldige Kind durchmachen musste.
    „Es tut mir so leid, Ryan“, sagte ich und ging vorsichtig einen Schritt auf ihn zu. „ Es muss furchtbar sein, wenn man jemandem ausgeliefert ist!“ Dabei dachte ich an meine Alpträume. Oh ja, es war furchtbar. „Hat deine Tante denn keinen

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