Der Tag, an dem John Dillinger starb
wohl klar, daß er Sie nur gegen Rojas ausspielt?«
»Ja«, antwortete Dillinger einfach.
»Wissen Sie auch, was dem letzten Amerikaner, der für ihn gearbeitet hat, zugestoßen ist?«
»Ja.«
»Und glauben Sie, daß Gott Ihnen einen eigenen Schutzengel schickt, den andere nicht haben?«
»Ja«, bestätigte er lachend.
»Sie haben eigentlich noch keine meiner Fragen beantwortet. Warum geben Sie sich so geheimnisvoll?«
Dillinger fiel auf, wie sehr Rose sich von den leicht zu er obernden Mädchen zu Hause unterschied. Hätte er sie in Indiana gesehen, hätte er sie für eine unnahbare Fremde gehal ten. Billie Frechette, seine Freundin, hatte Indianerblut in den Adern und war wirklich attraktiv – aber mit Rose konnte sie sich nicht vergleichen.
Er küßte sie leicht, wie er’s im Kino gesehen hatte, und ver mied es, sie an sich zu drücken, damit sie nicht die Pistole unter seiner Jacke spürte. Wenn er Billie küßte, arbeitete sich ihre Hand sofort seinen ganzen Körper hinunter, aber Rose lächelte nur und wandte sich so weit ab, daß er keine zweite Chance hatte.
John Dillinger dachte sekundenlang, sein Herz klopfe hörbar laut, aber es war eine Trommel, die in der Abenddämmerung pulsierte, während jemand einen unregelmäßigen Singsang anstimmte, den der leichte Wind zu ihnen hinübertrug. In einer etwa hundert Meter entfernten Senke flackerte Feuerschein, und Dillinger bemerkte ein Lager.
»Indianer?«
»Chiricahua-Apachen«, bestätigte Rose. »Das ist ihr Nacht
gebet, in dem sie den Himmelsgott bitten, morgen früh die Sonne zurückkehren zu lassen. Möchten Sie sie besuchen? Wir haben noch Zeit bis zum Abendessen.«
Eine hölzerne Außentreppe führte auf den Hof hinunter. Sie durchschritten den großen Torbogen und gingen zum Indianer lager hinüber. Rose hakte sich wie selbstverständlich bei Dillinger ein.
»Fallon hat mir erzählt, wie mein Onkel Sie reingelegt hat«, sagte sie unterwegs. »Er ist ein harter Mann.«
»Das ist noch milde ausgedrückt. Wie kommen Sie und er miteinander aus? Ihrem Onkel war’s lieber, wenn Sie Hermosa verlassen würden, nicht wahr?«
»Meine Gegenwart bringt ihn immer wieder auf. Er hat mir schon oft angeboten, mir das Hotel abzukaufen.«
»Aber Sie wollen nicht fort?«
Rose schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat mich als Zwölf
jährige in eine Klosterschule in Mexico City geschickt. Ich bin fünf Jahre im Internat gewesen, aber als ich zurückgekommen bin, hatte ich das Gefühl, keinen Tag lang fortgewesen zu sein.«
»Woher kommt das?«
»Diese Landschaft läßt Menschen, die sie in ihren Bann ge
schlagen hat, nicht mehr los«, antwortete sie. »Ich mag keine Städte. Und Sie?«
»Ich mag sie auch nicht besonders«, sagte er.
»Sie lügen, um sich bei mir einzuschmeicheln.«
Dillinger hätte ihr am liebsten erklärt, daß es auf dem Lande nur wenige Banken gab, die zudem keine hohen Kassenbestän de hatten. Wer fette Beute machen wollte, mußte in die Städte und Großstädte fahren.
»In Mexiko macht das Volk Helden aus seinen Banditen. In den Staaten machen sie Helden aus Gangstern.«
Erriet sie, wer er war? Wußte sie etwas?
»Ihr Onkel ist ein größerer Bandit als Villa«, stellte er fest.
»Richtig!« bestätigte Rose lachend und nahm für einen Au
genblick seine Hand. Er spürte, wie er sie begehrte, und konnte nur hoffen, daß diese Begierde, die er fast nicht ertragen
konnte, ihn nicht wieder verrückt machen würde.
»Ist Ihnen aufgefallen, wie eigenartig unsere Landschaft ist?« fuhr sie fort. »Wie die Felsen verschwimmen, die Berge zu tanzen scheinen und alles in blauen Dunst gehüllt ist? Die Landschaft ist wie das Antlitz Gottes, glaube ich. Manchmal sollen wir nicht allzu deutlich sehen.«
Ihre Hand lag auf seinem Arm, und ihre Stimme klang unver kennbar zärtlich. Als Dillinger sie von der Seite ansah, errötete sie und schien für kurze Zeit unsicher zu sein. Rose lächelte schüchtern, während ihr Gesicht im Schein der Abendsonne erglühte, und Dillinger wußte, daß sie die schönste Frau war, die er je gesehen hatte.
In ihrem Blick lag eine fast jungfräuliche Angst, und diesmal nahm Dillinger sekundenlang ihre Hand. Ihr Lächeln vertiefte sich, und sie wirkte nicht mehr ängstlich, sondern wieder völlig selbstsicher.
Ohne ein Wort zu wechseln, schritten sie weiter zum India nerlager. Es bestand aus drei großen Wickiups –
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