Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte
Umfeld. Sie war recht klein, zumindest für einen Ort mit Universität, aber wunderhübsch. Die Innenstadt bestand hauptsächlich aus engen Gassen, windschiefen Fachwerkhäusern und winzigen Hinterhöfen. Dafür war Renés und ihre Vierzimmerwohnung schön luftig und geräumig. Sie lag im Dachgeschoss eines Neubaus auf den Schlegelterrassen, wurde hinten durch einen bewaldeten Berghang abgeschirmt und bot nach vorne hin einen traumhaften Blick über ein Meer von Ziegeldächern.
Es war einfach herrlich, mit dem Mann seines Herzens in einer neuen Umgebung noch mal neu anzufangen, und dass es in der Nähe ein tolles Transplantationszentrum gab, machte Claudias Glück vollkommen. Jetzt konnte René sich endlich wieder in die Behandlung seines ehemaligen Gastroenterologen begeben. Der residierte in der Uniklinik und war angeblich viel kompetenter und engagierter als sein süddeutscher Kollege. Dem hatte René bis zum Schluss nicht vertraut, denn …
„… blindes Vertrauen in den falschen Mediziner ist riskanter als die Krankheit selbst“, sagte er zu Claudia. „Nils Wallin dagegen ist ein Feinmechaniker, und er hat mich noch nie belogen. Wenn’s was zu sagen gibt, sagt er es, und er rückt auch mit den hässlichen Wahrheiten heraus. Außerdem lässt er keine blöden Sprüche los, von wegen, dass es wichtig sei, nie den Mut zu verlieren und positiv zu denken, oder dass mein seelischer Zustand genauso wichtig sei wie mein körperlicher. Mit solchen Plattheiten verschont er mich.“
Gesundheitlich ging es René im Moment recht gut. Nur das Autofahren fiel ihm immer schwerer, was zur Folge hatte, dass seine Umsatzzahlen beständig in den Keller rutschten. Als er sich endlich Harald und Maike anvertraute, befreiten die ihn sofort vom Außendienst und übertrugen ihm das deutschlandweite Inside Sales.
Vertriebsinnendienst, Angebotswesen, Telefonmarketing … Das war nicht gerade Renés Traumjob, aber er bot unschätzbare Vorteile: So konnte er von zu Hause aus arbeiten und musste nur und hin und wieder einen Arbeitstag in der Deutschlandzentrale von Haverpore Chemical einlegen, die etwa eine Autostunde entfernt lag. Außerdem konnte er jetzt seine Arzttermine mühelos in den Alltag integrieren.
Es gab noch eine weitere glückliche Fügung in Claudias Leben: Frank hatte kürzlich die Frau seines Lebens kennengelernt, und die wohnte im Norden der Republik. So konnten Claudia und er die Vertriebsbereiche tauschen.
Ja, René und sie waren glücklich. Seine liebe Art, sein entwaffnendes Lächeln, seine bestrickende Stimme, sein wunderschöner Körper … All das war ein Geschenk für sie. Und sie war ein Geschenk für ihn. Wie sie sich beide in ihre Beziehung hineinfallen ließen, wie sie aneinander hingen, wie sie füreinander bestimmt waren … Das war einzigartig.
Nur in einem Punkt stritten sie sich weiter wie die Kesselflicker. Immer dann, wenn sie auf Claudias Spendenbereitschaft zu sprechen kamen.
„Da hast du’s“, sagte René. „Deshalb, genau deshalb wollte ich dich nicht an mich binden. Weil ich wusste, was dann kommt: Du willst Gott spielen. Zumindest willst du ihm ins Handwerk pfuschen.“
„Na und? Das tun deine Ärzte doch auch, und zwar die ganze Zeit.“
„Ich werde dich aber nicht in dein Verderben rennen lassen. Ich werde dich vor dir selbst beschützen, und wenn ich dabei draufgehe.“
„Tja, nun ist es zu spät, mein Lieber. Nun hast du mich auf dem Hals, denn ich bin fest entschlossen, dir irgendwann das Leben zu erleichtern.“
„Letztlich bestimm immer noch ich, wo’s langgeht, und ich sag dir eins: Deine Leber würde ich nicht mal annehmen, wenn du sie mir gebraten und mit Zwiebelringen, Kartoffelbrei und Apfelmus garniert zum Mittagessen servieren würdest.“
„Nun krieg dich mal wieder ein. Ich will dir nicht mein Leben spenden, sondern nur einen Leberlappen.“
„Vergiss es! Du spendest mir keinen Lappen. Nur über meine Leiche.“
So oder so ähnlich liefen alle ihre Diskussionen ab. Aber sonst verstanden sie sich prächtig.
Als René im Dezember ein neuer Stent eingesetzt werden musste, lernte Claudia endlich Nils Wallin kennen, seinen Gastroenterologen.
Als sie René nach der OP besuchen wollte, stand der Mann gerade im Eingangsbereich der Gastroenterologischen Klinik vor dem Kaffeeautomaten und steckte ein paar Münzen in den Schlitz. Claudia ging auf ihn zu und wollte sich ihm vorstellen, aber er hatte sie bereits zwischen den anderen Besuchern entdeckt und kam ihr
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