Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte
nie wieder sehen würde.
Sie versuchte sich einzureden, dass die Welt nicht unterging, wenn René und sie morgen operiert wurden und dabei vielleicht umkamen. Sie mussten doch sowieso irgendwann abtreten, wie alle anderen Menschen auch. Das war ein vollkommen natürlicher Prozess und kein Grund zum Heulen. Aber vielleicht starben René und sie morgen , und sie war nicht gerade wild darauf, dabei zu sein, wenn es geschah.
Was war denn nur los mit ihr? Sie wusste doch, dass sie das Richtige tat. Aber es fühlte sich plötzlich so falsch an.
Gegen Ende der Fahrt würgte sie ihre Panik wieder herunter, fuhr sich mit dem Jackenärmel über die Augen und hob dann den Kopf, um den Tatsachen des Lebens ins Auge zu blicken:
Es gab jetzt kein Zurück mehr.
Das Räderwerk war in Bewegung gesetzt worden.
Ab sofort waren sie dem System ausgeliefert.
Morgen früh würde Renés und ihr Schicksal besiegelt werden, so oder so.
Sie bekamen ein Doppelzimmer und richteten sich dort so gut es ging ein. Viel zu verteilen hatten sie nicht: zwei Bademäntel, zwei Zahnbürsten, zwei Zahnputzbecher, eine Zahncremetube, eine Haarbürste, ein Foto von Mia …
Es folgten die Blutabnahmen, das Gespräch mit den Ärzten über den organisatorischen Ablauf des nächsten Tages und erneut jede Menge Verwaltungs- und Schreibkram.
Sie kamen erst nachmittags zur Ruhe.
Aber dann gab es kein Entkommen mehr: Sie mussten sich ausziehen, ihre Straßenkleidung in den Schrank hängen und eine letzte rituelle Dusche nehmen. Danach statteten sie sich für die morgige blutige Zeremonie aus, indem sie in die bereitliegenden Leichenhemden schlüpften und sich gegenseitig die Bänder am Rücken verknoteten.
Zu guter Letzt standen sie halb nackt und wahr voreinander, hielten sich an den Händen und versuchten in Kontakt zu treten. Aber das gelang ihnen nicht mehr und führte nur dazu, dass ihre Blicke immer unsteter hin und her drifteten und ihre eiskalten Finger sich immer heftiger verkrampften.
Sie hatten Angst um den anderen und wollten ihm nah sein. Gleichzeitig hatten sie aber auch Angst um sich selbst und waren sich fern wie nie.
Wahrscheinlich musste es so sein.
Dass sie schon hier und jetzt voneinander abrückten, damit sie sich ab morgen wieder nah sein konnten.
Dass sie sich von dem anderen lösten und keine Rücksicht mehr auf ihn zu nehmen brauchten. Bis es vorbei war.
Ja, es musste so sein.
Nachts lagen sie gemeinsam im Bett, brachten aber kein einziges Wort mehr heraus und warteten nur darauf, dass die Zeit verging.
So klammerten sie sich blicklos, sprachlos und bewegungslos aneinander, bis man Claudia frühmorgens als Erste wegholte.
Kapitel 17: Vor fünfzehn Monaten
„Wachen Sie auf, Herr Doktor Sommerfeld!“, ruft eine Stimme aus unklarer Ferne. Freundlich klingt sie, unendlich weich und verlockend.
René versucht zu lächeln, aber es gelingt ihm nicht. Also lässt er sich weiter von den tätschelnden Lauten in das Land der Träume wiegen. Er gleitet fort aus diesem dichten grauen Nebelmeer, hin zu einem anderen Ort, in eine andere Zeit.
Ein Strand breitet sich vor ihm aus. Wellen lecken daran. Lichtreflexe huschen über das Wasser. Muscheln, Tang und Sand werden sanft hin und her gespült und umspielen seine nackten Füße. Er findet kaum Halt in dem Geriesel. Um ihn herum sind Dünen, Strandhafertuffs und Heckenrosen zu sehen. Sonnenlicht blendet ihn, sodass er blinzeln und die Augen mit der Hand schattieren muss. Ein Windhauch liebkost seine Haut und sein Haar, nimmt ihn mit, bis er glaubt, selbst übers bewegte Meer zu segeln und schließlich darin einzutauchen.
Sehnsucht …
Doch dann wird die Stimme eindringlicher, fast herrisch: „Herr Doktor Sommerfeld! Sehen Sie mich an! Schön die Augen aufmachen. Na los! Hierher sehen, sofort!“
Er ist immer noch mit sich allein und schwebt im Wind. Dann taucht er ins Wasser ein, rollt sich zwischen den Schaumkronen hin und her und ist eins mit den Elementen. Das Meer rauscht. Er hört die Brandung gegen die Felsen donnern und Möwen in der Luft kreischen. Grünlich phosphorisierende Licht- und Wassersplitter umkochen ihn, als er wieder an die Oberfläche schnellt. Ein Schwarm Fische springt neben ihm hoch. Er folgt ihm, hat plötzlich Flügel, schwingt sich hoch und immer höher in einen Himmel, der von schwerelos dahinsegelnden Wattewölkchen verziert wird.
Es ist wie im Traum, wie in einem wunderschönen und hoffentlich nie endenden Traum. Aber er weiß, dass es
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