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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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sein sollte. Unser „Gastgeber“, Herr Schwarzer, sagte dazu: „Ihr habt doch 22 Jahre in feindlichem Gebiet verbracht. Deswegen müsst Ihr gründlich untersucht werden. Im Westen ist die medizinische Versorgung so schlecht, wer weiß, was Ihr für Krankheiten mitbringt!“ Was hatte der für Vorstellungen vom Westen? Er dachte wohl, wir kämen aus dem Urwald! Glaubte er seinen eigenen Worten? Oder spielte jeder nur dieses absurde Spiel mit? Es sollte nicht die einzige merkwürdige Ansicht unserer „Gastgeber“ über die Zustände im Westen Deutschlands bleiben. Wir wurden also mit dem Wartburg in einem halsbrecherischen Tempo ins Zentrum der „Hauptstadt der DDR, Berlin“ gefahren. Nach einer halben Stunde erreichten wir einen Gebäudekomplex an der Frankfurter Allee, der zwar auch aussah wie all die anderen Plattenbauten, aber bedeutend größer war. Das war also die Hauptzentrale des Ministeriums für Staatssicherheit. Mir fiel auf, dass das Gelände extrem abgeschirmt von der normalen Bevölkerung war. Die Frankfurter Allee war zwar befahrbar, aber die Straße, die zum Haupteingang des Geländes führte, war komplett gesperrt, nicht einmal Fußgänger durften sie benutzen. Über die Normannenstraße an der Rückseite des Blockes war sogar eine Mauer quer über die Straße gebaut, damit man weder durchfahren noch irgendetwas sehen konnte. Wir allerdings fuhren ohne große Kontrolle durch das Tor. „Jürgen“ zeigte einen Ausweis vor, wir hatten ja nichts zum Vorweisen, waren aber wohl angemeldet. Der Aufenthalt in der Poliklinik dauerte nur kurz. Banale Untersuchungen wie Blutdruck messen, abhorchen, Blut abnehmen usw. Ich hatte erwartet, nach den Sprüchen unserer Gastgeber würden wir in eine supermoderne ärztliche Praxis kommen, musste aber feststellen, dass sie mir im Vergleich zu den bisher bekannten sehr altmodisch vorkam. Das Instrumentarium schien aus den fünfziger oder sechziger Jahren zu stammen. Danach wurden wir wieder zurück gefahren und saßen wieder in Eichwalde fest.
    Eichwalde empfanden wir auf unseren Spaziergängen als trist, grau, dunkel, tot. Kaum eine Gaststätte war zu finden. Und wenn, dann war sie geschlossen oder alle Plätze waren belegt. Der strenge Winter ließ unsere Situation noch trostloser erscheinen.
    Ein besonderes Problem der ersten Zeit: Wie und wann sollten wir das Geschehene bloß unseren Verwandten erklären? Die Stasi-Leute wollten, dass wir noch abwarten, bis wir eine eigene Wohnung bezogen hatten, um das dann wohl als normalen Umzug zu verkaufen. Wann aber würden wir eine eigene Wohnung haben? Wie lange sollten wir einfach verschwunden sein und kein Lebenszeichen von uns geben? Meine Mutter hatte zwei Tage nach unserer Ankunft in der DDR Geburtstag gehabt. Wie üblich hatten ihre Eltern aus Ahlbeck ein Päckchen geschickt und warteten dann natürlich auf eine entsprechende Antwort meiner Mutter. Telefon hatten wir zwar nicht, aber einfach wochen- oder monatelang nichts von sich hören zu lassen, ging nicht. Meine Großeltern würden sich größte Sorgen machen und das Schlimmste denken, was ihnen meine Mutter nicht antun wollte. Die aktuelle Lage war schon schlimm, aber sie wüssten wenigstens, dass wir am Leben sind und nicht noch Schlimmeres passiert ist.
    Die wahren Gründe der überstürzten „Umzugs“ sollten wir verheimlichen, unsere offizielle Legende war: Wir sind in die DDR gezogen, damit wir uns besser um unsere immer älter werdenden Großeltern kümmern könnten. Eine äußerst dürftige Erklärung! Wer sollte das eigentlich glauben? Wer zieht schon freiwillig vom Westen in den Osten, es ging doch sonst eher anders herum? Wir haben uns zwar zumindest in den ersten Monaten an diese Anweisung der Stasi gehalten, aber es war bald klar, und wir spürten das bei solchen Gesprächen auch, dass keiner uns diese Erklärung glaubte. Nachgehakt hat aber auch keiner so richtig. Die Legende hat nicht gerade dazu beigetragen, mit neuen Bekannten ein Vertrauensverhältnis herzustellen. Vielmehr begegnete man uns mit Misstrauen und größter Vorsicht. Uns war nicht zu trauen.
    Meine Eltern wollten also möglichst bald ihren Verwandten schreiben. Meine Mutter ihren Eltern in Ahlbeck, mein Vater seinem Bruder in Erfurt und seiner Schwester in Gera. Nur hatten wir keine Absenderadresse. Die Anschrift des geheimen Gästehauses der Staatssicherheit in Eichwalde konnten wir natürlich nicht nutzen. Das ältere Ehepaar Schwarzer, unsere „Gastgeber“, wohnte gar

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