Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
das eine Weile weiter, der Ton wurde mit der Zeit immer schärfer und gipfelte in der Ansage:
„Wenn du nicht freiwillig hingehst, werden wir dafür sorgen, dass du unter Umständen von der Polizei dort vorgeführt wirst.“
Jetzt reichte es mir, ich gab jetzt eine Gegendrohung ab:
„Macht es nur, wenn Ihr wollt, dass mein Bruder das im Westen an die Öffentlichkeit bringt, bitte!“
„Du bist allein für die Konsequenzen, die sich für dich und deine Familie daraus ergeben, verantwortlich.“ Mit diesen Worten zogen sie ab.
Meine Gegendrohung mit der westdeutschen Öffentlichkeit hatte wohl Wirkung gezeigt: Ich hörte niemals wieder ein Wort zu diesem Thema, ich wurde auch nie von der Polizei zur Musterung abgeholt. Aber warum hatten sie unbedingt darauf bestanden, dass ich zur Musterung gehe? Wahrscheinlich ging es um eine festere Bindung zur DDR. Ich habe von der ersten Sekunde an meine ablehnende Haltung gegenüber der DDR zum Ausdruck gebracht, verbunden mit der immerwährenden Forderung, nach Hannover zurückzukehren. Wäre ich gemustert worden, wäre eine Ausreise beziehungsweise ein Fluchtversuch gleichzeitig auch eine Fahnenflucht gewesen mit vermutlich noch ungleich härteren Konsequenzen. Glücklicherweise konnte ich das vermeiden. Etwas später, zu Beginn des zweiten Lehrjahres, stand nun auch noch die jährlich stattfindende vormilitärische Ausbildung an. Mein Lehrmeister kam davor zu mir und sagte:
„Thomas, du weißt, in drei Wochen ist die vormilitärische Ausbildung.“
„Ja, ich weiß, ich werde nicht daran teilnehmen!“
„Das steht aber im Lehrplan, es ist verpflichtend.“
„Das ist mir egal. Ich werde nicht teilnehmen. Sie können das so weitergeben.“
Im Westen hatte ich vorgehabt, den Wehrdienst zu verweigern, Zivildienst zu machen. Da werde ich doch nicht im Osten schießend durch den Wald rennen! Nichts passierte. Auch da wurde es letztendlich akzeptiert. Ich bin nicht auf die Sturmbahn und den Schießstand gegangen, sondern in den Betrieb zur Arbeit. Immerhin konnte ich mir wegen meiner Herkunft noch ein paar kleine Freiheiten mehr herausnehmen als die Kollegen. Das ganze Militärische war mir von Anfang an zuwider.
Mein Vater hatte längst selbst eine ganze Reihe weiterer Aktivitäten begonnen, die uns helfen sollten, die DDR zu verlassen. Er hielt bewusst meine Mutter und mich soweit es ging dabei heraus, bis es konkret werden würde. So, meinte er, würde uns die Stasi im Falle des Falles, wenn etwas schief gehen würde, in Ruhe lassen. Noch so ein Irrtum.
Nach unserer glücklosen Rückkehr aus Budapest war mein Vater ständig in Berlin unterwegs, Möglichkeiten zu suchen, aus der DDR herauszukommen. Wie wir in Ungarn erfahren mussten, war das Interesse des westdeutschen Geheimdienstes, uns zu helfen, nur sehr gering. Deswegen hatte mein Vater die Idee, es bei den Alliierten zu versuchen. Berlin als Nahtstelle des Kalten Krieges war voll von Militärangehörigen der USA, Großbritanniens und Frankreichs. Die Angehörigen der Besatzungsmächte durften sich ja innerhalb ganz Berlins frei bewegen. Man sah in Ost-Berlin ständig Militärbusse der West-Alliierten; so nah und einfach war es nirgends für sie, sich mal in einem Teil des Ostblocks umzusehen. Sie waren auch deshalb gut zu erkennen, weil sie in ihren Ausgeh-Uniformen unterwegs waren. Mein Vater wollte sich an die britischen und amerikanischen Militärs wenden, da er gut englisch sprach. Französisch beherrschte er nicht. Die Franzosen hielt er darüber hinaus auch nicht unbedingt für so risikofreudig, dass sie ein so heißes Eisen anfassen würden. Er bereitete also englischsprachige Nachrichten vor, die er auf kleine unscheinbare Zettel notierte. Dort stand drauf, dass er um ein Gespräch mit einem Mitarbeiter des britischen MI6 beziehungsweise des amerikanischen CIA bat. Es ginge um sicherheitspolitisch wichtige Angelegenheiten. Als Treffpunkt wählte er das Restaurant „Sofia“ in der Leipziger Straße, das sich genau gegenüber unserer Wohnung befand. Eine Woche später würde er dort warten, mit einer Berliner Zeitung auf dem Tisch.
Aber wie sollte er an die Soldaten herankommen? In so einer überwachten Stadt, wo die an ihren Uniformen gut erkennbaren westlichen Militärangehörigen natürlich besonders intensiv überwacht wurden? Mein Vater konnte ja schlecht zu einem Bus gehen oder einem Uniformierten direkt so einen Zettel überreichen. Die günstige Gelegenheit ergab sich im
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