Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
durch den die Grenze führte, erschien uns geeignet. Außer Kartenmaterial besorgte mein Vater noch Seitenschneider, um eventuell Zäune durchschneiden zu können.
Aber so groß die Hoffnungen wieder wuchsen: Die Stasi verbot uns drei Tage vor Abfahrt die geplante Reise. Sie begründeten es damit, es würde „irgendetwas gegen uns vorbereitet“. Der westdeutsche Bundesnachrichtendienst hätte etwas gegen uns vor, wollte uns angeblich wegfangen oder ähnliches. Zu unserer eigenen Sicherheit könnten sie es leider nicht erlauben, nach Ungarn zu fahren.
Eigentlich war jetzt klar: Wenn nicht ganz, ganz schnell etwas klappt, holt uns die Stasi. Das wollten wir in dem Moment nicht wahrhaben, im Grunde war es uns aber klar. Uns oder vielmehr meinem Vater blieb nur noch eine Variante: die Ostsee. Er wollte als allerletzte Möglichkeit versuchen, über die Ostsee nach Schleswig-Holstein zu schwimmen. Dafür kaufte er noch schnell eine Taucherbrille, Luftmatratze und irgendwelches Teppich-Material, um sich daraus so eine Art Neopren-Anzug zu basteln. Ein Verzweiflungsakt, ein Himmelfahrtskommando! Er wollte dieses Risiko auf sich nehmen, obwohl er fast 53 Jahre alt, invalidiert und alles andere als sportlich war. Aber ihm war mittlerweile alles egal. Meine Mutter und ich sollten zur gleichen Zeit in die bundesdeutsche Vertretung in Ostberlin flüchten und dort so lange bleiben, bis wir direkt in den Westen raus gelassen würden. Wir hätten uns dann nicht wieder rauswerfen lassen wie ein Jahr zuvor in Budapest. Wir sollten uns dort festsetzen und auf keine Diskussionen und Kompromisse einlassen. Mein Vater meinte, er selbst könnte nicht in die Ständige Vertretung flüchten, ihn als Stasi-Offizier würden sie niemals raus lassen; aber für meine Mutter und mich wäre das die letzte Chance; uns beide würden sie nicht länger festhalten. Wir waren ja nur der „Beifang“. Deshalb wolle er alleine über die Ostsee. Wie verzweifelt muss man sein, wenn man sich auf so einen Plan einlässt!
Am 12. September 1981 fuhren meine Eltern mit dem Auto an die Ostsee. Sie wollten in Boltenhagen erkunden, wo eine günstige Stelle für eine Flucht liegt. Dort befindet sich die Lübecker Bucht, die Strecke in den Westen ist vergleichsweise kurz, außerdem gibt es regen Schiffsverkehr, so dass mein Vater hoffen konnte, aufgefischt zu werden.
Ich hatte keine Lust mitzufahren. Meine Eltern wollten am späten Abend oder in der Nacht wieder zu Hause zu sein. Ich blieb in der Wohnung allein zurück.
Untersuchungshaft I
12. September 1981, Samstagabend, halb 8. Ich hatte gerade Abendbrot gegessen. In einer dreiviertel Stunde würde „Einer wird gewinnen“ mit Hans-Joachim Kulenkampff anfangen. Unterhaltung für die ganze Familie. Ein Stückchen Heimat. Familie, Heimat – die Begriffe bekommen eine ganz andere Bedeutung, wenn sie so fern, so unwirklich, so unerreichbar werden, selbst für einen 18-Jährigen. Klar, hatte ich meine Eltern noch; aber mein Bruder war weg, konnte uns nicht mehr besuchen, und meine Eltern waren auch in einem Zustand, der den Begriff „normal“ im Zusammenhang mit „Familienleben“ vollständig ausschloss. Normal war hier gar nichts mehr.
„Einer wird gewinnen“ also. Meine Eltern waren ja noch an der Ostsee unterwegs, sie würden erst sehr spät wiederkommen. Es klingelte an der Tür. Wer könnte das jetzt noch sein? Kaum hatte ich die Klinke der Tür auch nur wenige Zentimeter nach unten gedrückt, wurde mir sie mir regelrecht aus der Hand gerissen. Im gleichen Moment wurde ich von fünf fremden Männern zurückgestoßen. Zwei der Männer drängten sofort an mir vorbei in die Wohnung.
„Was soll das? Wer sind Sie?“
„Die Fragen stellen wir! Sind Sie Thomas Raufeisen? Weisen Sie sich aus!“ Jetzt war es also so weit. Die DDR, die Stasi machte ernst mit uns. Oder war es ein letzter Einschüchterungsversuch?
Ich war so überrascht, dass ich nicht nach ihren Ausweisen fragte. Sie trugen keine Uniformen. Stasi-Mitarbeiter trugen ja selten Uniformen, aber man erkannte diese Leute. An ihrer Körpersprache, an ihrer kalten Neugier. Ich suchte meinen Ausweis aus meinem Portemonnaie, einer der Männer schnappte ihn sich, schaute rein und sagte:
„Sie werden jetzt mitkommen, zur Klärung eines Sachverhaltes!“
„Heißt das, ich bin verhaftet?“
„Ja.“
„Wo sind Ihre Eltern?“
„Unterwegs.“
„Wo?“
„Keine Ahnung!“
Ich hatte gerade noch Zeit, den Fernseher auszuschalten und mir
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