Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
Falschen
Trotz all der Verhöre hat man im Knast viel Zeit zum Nachdenken. Zu viel Zeit. Alles zieht noch einmal an einem vorbei. Vor allem natürlich die Frage, was man falsch gemacht haben könnte, so dass unsere Fluchtabsichten aufgeflogen sind. Aber wie ich es auch wendete: Es war eher ein Wunder, dass sie uns nicht früher verhaftet haben – so auffällig und so verzweifelt, wie wir uns verhalten haben. Also denkt man weiter über seinen Alltag nach. Was habe ich eigentlich gemacht, was habe ich erlebt in den Jahren der „Freiheit“ in der DDR – abseits von verkorksten Ausbildungs- und Fluchtversuchen? Was war eigentlich „normal“ in der Unnormalität? Gab es ein Stückchen „richtiges Leben im falschen“? Was hatte ich gemacht in meiner Freizeit, an den Wochenenden, im Urlaub? Wofür interessiert man sich mit 18? Für Musik, Autos und Mädchen. War das bei mir auch so? War alles normal?
Ich war oft und vermutlich mehr als für das Alter üblich, mit meinen Eltern unterwegs. Sie waren die sicheren, vertrauten und vertrauenswürdigen Bezugspersonen. Wir haben immer mal wieder Ausflüge in die Umgebung Berlins unternommen. Einmal fuhren wir nach Lübbenau, in den Spreewald. Eine sehr schöne Gegend mit vielen kleinen verzweigten Flussläufen und nur wenigen Straßen. Von Lübbenau aus kann man mit Spreewaldkähnen fahren – lange, flache Boote mit vielen Sitzreihen. Der Bootsführer steht im Heck und stakt das Boot mit einen langen Stab vorwärts. Als wir an der Anlegestelle ankamen, erlebten wir eine unangenehme Überraschung: Es gab keine Plätze für uns. Alle waren reserviert. Als Einzelreisende hatten wir keine Chance, nur angemeldete Gruppen erhielten Plätze. Und die Gruppen, die wir dort sahen, kamen alle aus dem Westen. Wir erkannten es an den parkenden Bussen. Wir mussten uns wohl oder übel damit begnügen, einen Spaziergang an Land zu unternehmen. Auch das Essengehen wurde uns verwehrt; überall waren West-Reisegruppen. Es war doppelt ärgerlich: Wenn die DDR ihre eigenen Bürger schlecht behandeln wollten – ok; aber ich gehörte doch nicht dazu!
Was habe ich sonst in meiner Freizeit gemacht? Musik gehört. Die Schallplattensammlungen von meinem Bruder und mir waren beständig gewachsen, bis wir in der DDR gelandet waren. Das Angebot an Schallplatten des DDR-Plattenlabels „Amiga“ war leider sehr überschaubar. Nur wenige Bands, deren Platten man dort kaufen konnte, waren interessant. Höchstens Gruppen wie „Puhdys“, „City“, „Karat“ oder „Stern-Combo Meißen“. Ich besaß sogar von einem früheren DDR-Besuch eine Platte der „Klaus-Renft-Combo“, die 1975 verboten wurde. Westliche Rockgruppen wurden, wie ich gehört hatte, auch manchmal von Amiga herausgebracht, aber in einer so kleinen Auflage, dass sie nur über Beziehungen oder mit großem Glück zu bekommen waren. Ich habe nie welche im Centrum-Warenhaus am Alex gesehen.
Mit Rock-Konzerten sah es ebenso schlecht aus: Wenn westliche Bands im Osten auftraten, dann meist vor handverlesenem Publikum. Manchmal gab es aber doch Gelegenheit, ein bisschen Live-Musik mitzuerleben. Im Sommer 1980 sollten „Barclay James Harvest“ direkt vor dem Reichstag spielen – gratis, als Dank an die Berliner Fans. Die ganze Stadt war schon tagelang vorher wie elektrisiert, in West wie Ost. Der RIAS übertrug dieses Konzert live, allerdings immer wieder vermischt mit Interviews und Stimmungsberichten. Nichts zum Aufnehmen. Aber drei Tage später wurde ein Mitschnitt gesendet, der sogar noch eine halbe Stunde länger war als das später veröffentlichte Live-Album. Ca. 175.000 Fans sollen an diesem Abend vor dem Reichstag gestanden haben. Es war ein quälerischer Genuss, die Musik von unserem Balkon in der Leipziger Straße aus zu hören. Ich wollte näher heran, möglichst zum Brandenburger Tor. Meine Mutter fuhr mich. Einige hundert Meter vor dem Brandenburger Tor war Schluss, es ging nicht weiter. Wir Rockfans sahen uns einer undurchdringlichen Menschenkette gegenüber, die das Brandenburger Tor weiträumig absperrte. Viele FDJ-Hemden und Betriebskampfgruppen, ein martialischer Auftritt, gruselig. „Barclay James Harvest“ waren trotzdem zu hören. Der schwere, satte, pathetische Sound ließ mich träumen und trug mich wenigstens in Gedanken über die Mauer hinweg.
Im Sommer 1981 konnte ich endlich meinen PKW-Führerschein machen. In der DDR hieß er „Fahrerlaubnis“. Wie bei so vielem gab es Wartezeiten – Jahre,
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