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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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Geburtstag.
    Ich war mit 19 Jahren verhaftet worden, nun rückte mein 20. Geburtstag im Juli immer näher. Eigentlich hatte ich mir die Party an diesem Tag ganz anders vorgestellt. Aber zum Feiern war mir unter den Umständen überhaupt nicht zumute. An diesem 16. Juli passierte anfangs nichts Besonderes. Kein Verhör; das Verfahren war sowieso gerade abgeschlossen worden. Die Stasi hatte sich aber noch eine besondere Überraschung für mich ausgedacht. Nachmittags wurde ich plötzlich von einem Läufer zum Vernehmerzimmer gebracht. Als ich dort eintrat, erwartete mich eine völlig skurrile Situation. Meine Eltern warteten schon dort; bis dahin hatte ich sie während unserer Haft nur dreimal zu sehen bekommen, jeweils eine halbe Stunde lang. Der Tisch war festlich gedeckt, mit Kaffee, Eis und Kuchen; sogar ein Blumenstrauß stand in der Mitte. Was sollte ich jetzt davon halten? Meine Eltern erhoben sich und gratulierten zum Geburtstag, mein Vater wollte mich trösten, er sagte: „Deinen nächsten Geburtstag werden wir dann bestimmt zusammen im Weserbergland feiern können.“ Er hat selbst nicht daran geglaubt. Ich auch nicht. Die Stimmung war sehr gedrückt. Wollten die uns vorführen, wie schön wir hätten feiern können, wenn wir nicht diese „Verbrechen“ begangen hätten? Etwas anderes konnte ich mir nicht vorstellen. Wir hatten ja schon einige Erfahrungen mit diesen Leuten gemacht. Eine halbe Stunde dauerte dieser Spuk, dann ging es in die Zellen zurück. Mein 20. Geburtstag war der schrecklichste meines Lebens.

Mithäftlinge
     
    Inzwischen war ich auch nicht mehr alleine. Nach ein bis zwei Wochen hatte es plötzlich „Sachen packen!“ geheißen. Ich versuchte, die paar Habseligkeiten – Seife, Zahnbürste, ein Buch, Wechselwäsche, Schlafanzug, Handtuch, ein Kamm – irgendwie in eine der Decken einzupacken und zuzuschnüren. Ein paar Minuten später wurde ich geholt und in den dritten Stock gebracht. Eine Tür, die genauso aussah wie meine vorherige, öffnete sich; ich kam in eine etwas größere Zelle, die zwei „Fenster“ hatte. Es empfingen mich zwei ebenfalls in blaue Trainingsanzüge gekleidete Häftlinge. Ab jetzt war ich nur noch selten, und wenn, dann nur kurz, in Einzelhaft.
    Plötzlich gab es auch wieder andere Menschen. Es war eine gewisse Erleichterung. Das ist natürlich immer eine zweischneidige Sache. Wer weiß, mit wem man zusammenkommt?
    Der eine der beiden Häftlinge hieß ebenfalls Thomas und erzählte ziemlich freimütig, dass er in den Westen flüchten wollte und dabei erwischt worden war. Außerdem erfuhr ich von ihm, er wäre wohl sozusagen das „schwarze Schaf“ der Familie, alle anderen wären wohl sehr linientreu. Genaueres hatte er aber nicht erzählt, ich habe auch nicht groß nachgefragt. Der andere, Uli, sagte nur, er hätte „Scheiße gebaut“; es war wohl irgendetwas mit Brandstiftung.
    Das war alles in allem schon sehr vage, mich beschlich sofort das Gefühl, dass es wohl besser sei, nicht zu viel zu erzählen. Vielleicht haben die Wände Ohren, wer weiß? Und wer weiß, was Thomas und Uli ihren Vernehmern von dem berichten, was ich ihnen erzählt hatte? Wem konnte man trauen? Wie hoch war der Preis für einen Verrat? Ein richtiger Bohnenkaffee beim Verhör, einmal Besuch der Freundin außer der Reihe? Das Versprechen, dass die Strafe geringer ausfallen würde? In der gesamten Zeit in Untersuchungshaft habe ich immer erzählt, dass ich alleine im Knast wäre und versucht hätte, in den Westen zu flüchten. Dass meine Eltern ebenfalls hier waren, habe ich lieber verschwiegen. Natürlich konnte ich nicht leugnen, woher ich ursprünglich stammte. Das war immer so bei Unterhaltungen mit DDR-Bürgern, dass sehr schnell klar wurde, dass ich aus dem Westen gekommen war, schon wegen der Kenntnisse über den Westen, wegen der völlig anders gearteten Sozialisation.
    Wieder mit Menschen, die (hoffentlich) nicht für die Stasi arbeiteten, reden zu können, war aber auf jeden Fall eine große Erleichterung. Nach der tage- und wochenlangen Einsamkeit konnte ich mich jetzt wenigstens etwas ablenken. Dafür ergab sich ein neues Problem. Der Toilettengang. Die Toilette befand sich in der Zelle in einer Ecke ohne Abtrennung. Auf Toilette zu gehen mit Zuschauern klappte zuerst überhaupt nicht. Aber irgendwann muss man ja. Die letzten Bereiche der Intimsphäre wurden so zerstört.
    Ab jetzt hatte ich auch etwas zu lesen. Jeden Tag, fast jeden Tag, wurde eine Tageszeitung durch

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