Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
Kaufhalle befand sich nicht weit von unserem Haus entfernt. Als ich dort reinging, konnte ich das erste Mal so richtig spüren, was der Knast mit mir gemacht hat: So viele Menschen, eng beieinander. Ich bekam Beklemmungen. Aber ich musste da durch, ich musste ja essen. Es stellte sich als ganz großes Problem heraus, zum Beispiel an der Fleischtheke etwas zu verlangen. Jahrelang wurde es mir regelrecht ausgetrieben, Bedürfnisse zu haben oder gar zu äußern und durchzusetzen. Selbst solche Kleinigkeiten kosteten mich eine Überwindung, die man sich kaum vorstellen kann. Aber ich habe es geschafft, ein erster Schritt ins normale Leben.
Die erste Nacht in dieser gespenstischen Wohnung habe ich kaum geschlafen. Meine Gedanken kreisten immer und immer wieder um meine ungewisse Situation. Am nächsten Morgen fuhr ich mit der S-Bahn nach Friedrichsfelde-Ost, ins Anwaltsbüro von Dr. Wolfgang Vogel. Ein zweistöckiger Bau, nicht besonders aufwändig. Ich klingelte, trat ein, die Sekretärin begrüßte mich und sagte:
„Guten Tag, Herr Raufeisen, wir haben Sie schon erwartet. Herr Dr. Vogel möchte Sie persönlich empfangen. Er ist aber leider zurzeit nicht im Hause. Ich würde Sie bitten, in zwei Stunden noch einmal wiederzukommen.“
Herr Vogel wollte mich persönlich sprechen. War das ein gutes Zeichen? Das musste ein gutes Zeichen sein! Nicht einer seiner Mitarbeiter – Starkulla oder Hartmann – sprachen mit mir. Nein, Herr Vogel wollte unbedingt persönlich mit mir sprechen! Bestimmt würde er mir etwas Bedeutsames mitzuteilen haben. Hoffentlich kann er mir sagen, dass es bald in den Westen geht.
Ich ging erst einmal wieder hinaus und musste nun irgendwie die Zeit totschlagen. Ein Café gab es in dieser öden Gegend nicht. So konnte ich nur spazieren gehen. Unwillkürlich lenkte ich meine Schritte in die große Plattenbausiedlung in der Nähe, Marzahn. Sie lag an der Straße der Befreiung. Dort hatte doch, zumindest vor drei Jahren noch, mein Kumpel Peter aus der Berufsschule gewohnt. Ich wollte nur mal sehen, ob der Name noch auf dem Klingelschild stand. Ich hatte nicht vor zu klingeln. Ein Kontakt zu ihm könnte riskant sein. Besonders für ihn. Wer weiß, wer mir am Hacken hing. Ich musste davon ausgehen, dass die Stasi mich beobachten würde. Also lieber keinen Kontakt. Das Klingelschild war da. Ich ging weiter.
„Thomas?!“
Oh, nein, Scheiße!
„Bist du es?“
Peters Vater mähte gerade vor dem Haus den Rasen. Ausgerechnet jetzt! Ich hatte ihn gar nicht gesehen. Genau das wollte ich eigentlich verhindern.
„Ja, hallo, ich bin es. Ich bin wieder da. Ich wohne wieder in der Leipziger Straße. Wenn Peter zu mir kommen will, kann er das gerne tun. Er soll sich das aber genau überlegen; es könnte gefährlich sein. Ich weiß nicht, ob das für ihn Probleme ergeben könnte.“
„Ist gut, ich werde ihm das so sagen.“
Zwei Stunden später stand ich wieder vor der Sekretärin im Anwaltsbüro Vogel.
„Herr Dr. Vogel ist jetzt da. Er erwartet Sie. Folgen Sie mir bitte!“
Vogel saß hinter einem voluminösen Schreibtisch. Sehr luxuriös war sein Büro. Er sammelte Uhren. Die Wände waren übersät mit den verschiedensten, sehr teuer aussehenden Wanduhren.
„Guten Tag Herr Raufeisen. Ich habe Sie erwartet. Wir werden jetzt Ihre Lage besprechen.“
Was wird er mir zu sagen haben? Doch hoffentlich etwas Positives?
„Zunächst einmal teile ich Ihnen mit, dass mein Mandat mit Ihrer Haftentlassung beendet ist. Ich kann nichts mehr für Sie tun. Ein positive Nachricht bezüglich ihrer Absicht, in den Westen zu kommen, kann ich Ihnen leider auch nicht geben. Ich sehe keine Lösung. Meine persönliche Meinung ist, dass man Sie bei dem Kaliber dieses Falles niemals in den Westen ausreisen lassen wird. Sie werden sich also in der DDR einrichten müssen.“
Das saß! Was für ein Reinfall! Um mir das zu sagen, wollte er mich persönlich in seinem Büro empfangen? In mir brach eine Welt zusammen. Ich musste mich zusammenreißen, um ruhig zu bleiben.
„Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?“
„Ja, wie gesagt, mehr kann ich nicht für Sie tun. Für Ihre Eltern bin ich natürlich weiterhin tätig.“
„Ja, dann kann ich mich wohl verabschieden.“
„Es tut mir leid, dass ich Ihnen keine besseren Nachrichten geben kann. Auf Wiedersehen.“
Völlig benommen verließ ich das Anwaltsbüro. Was sollte ich davon halten? Aber das passte doch gar nicht zusammen mit den Dingen, die mir mein Onkel
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