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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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Hans in eine eigene Zelle verlegt. Nach einiger Zeit wurde er wieder weggebracht, vielleicht ins Krankenrevier nach Bautzen I? Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.
    Ich hatte seit meiner Ankunft im November 1982 und das ganze Jahr 1983 am Leistungsband gearbeitet. So verging die Zeit relativ schnell, ich hatte mich eingerichtet, konnte die Arbeit gut verrichten und mir durch den Verdienst einiges leisten. Die kleinen Freuden des Strafgefangenen Raufeisen waren gezuckerte Kaffeesahne oder Erbsen im Glas vom „Koofmich“ und Tchibo-Kaffee, Shampoo und Rasierwasser vom knastinternen Schwarzmarkt.
    Im Frühjahr 1984 nahm meine Motivation zur Arbeit immer mehr ab. Über Monate hinweg sollten wir ständig mehr Schaltschütze montieren. Um noch mehr zu produzieren, wurden Sonderschichten am Wochenende eingelegt. Ich sollte mitmachen, aber ich weigerte mich. Nichts war aus den Hoffnungen von einem Freikauf in den Westen geworden. Nun war es wohl auch zu spät dafür. Der 11. September 1984, mein offizieller Entlassungstermin, rückte immer näher. So kurz vor der Entlassung würde ich mich nicht mehr totmachen für diesen Laden. Um die Vorgabe an solchen Wochenenden zu erreichen mussten an meinem Arbeitsplatz zwei Leute eingesetzt werden, sonst hätten sie es gar nicht geschafft. Während der normalen Arbeitszeit machte ich immer mal wieder kritische Bemerkungen zu unserem Arbeitstempo. Es dauerte nicht lange, da wurde ich von Walter eines Tages im Mai 1984 vom Band weggeholt.
    Eigentlich war es mir ganz recht, in den letzten Monaten vor der Haftentlassung etwas kürzer zu treten. Ich wurde in einen kleinen Kellerraum verbannt. In dieser Kammer wurden „Unterteile“ für die Schaltschütze hergestellt. Eine mühselige Arbeit, bei der man nie die Norm schaffen konnte. Nur noch etwa 50,- Mark war dort zu verdienen, weniger als ein Viertel von dem, was ich vorher zur Verfügung gehabt hatte. Das war aber nicht so schlimm, da ich genug Geld angespart hatte.
    Drei Monate vor meinem Entlassungstermin wurde ich zum Vollzugsdienstleiter geholt, der mit mir meine „Wiedereingliederung“ besprechen wollte. Ich sollte doch tatsächlich ein Formular ausfüllen, in dem ich notieren sollte, wo ich – natürlich in der DDR – wohnen wolle, welche Arbeit ich aufnehmen wolle… Ich hätte mich fast übergeben. Sollte das schlimmste Denkbare jetzt wahr werden? Die wollen mich tatsächlich in die DDR entlassen? Soll dieser Alptraum draußen immer noch weitergehen? In der DDR leben, nun auch noch allein? Bruder im Westen, Eltern im Knast? Undenkbar! Was wollten sie überhaupt mit mir in der DDR?
    Ich weigerte mich und machte klar, dass ich mich weiterhin als Bundesbürger fühlte und nach Hause wollte. Die Zeit verging, der Termin rückte näher und näher. Meinen 22. Geburtstag, den dritten im Gefängnis, musste ich auch noch dort erleben. Immerhin konnte ich mir mal etwas Besonderes leisten, eine Torte. Einer der Gefangenen aus unserem Kommando, Roman, besaß bis zu seiner Verhaftung eine Bäckerei. Für ein Glas Kirschen und 20 Mark macht er mir an meinem Geburtstag eine siebenstöckige Sahnetorte. Das war dann fast schon ein Abschiedsgeschenk – zwei Monate vor der Entlassung.
    In dieser Zeit, im Juli 1984, konnte ich noch einmal meine Eltern sehen. Eine Stunde lang, wie immer nur unter Bewachung. Die Atmosphäre des Treffens war bedrückend angesichts der fortwährenden Ungewissheit über unsere Zukunft. Ich würde demnächst aus dem Gefängnis kommen. Und dann? Meine Mutter hatte noch vier Jahre vor sich, mein Vater würde vielleicht nie wieder raus kommen…
    Viel zu früh mussten wir uns wieder voneinander verabschieden. Es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass ich meinen Vater sah und sprach. Aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Das letzte Bild von ihm, das ich in mir trage, ist schon verschwommen. Ein ernst schauender Mann, älter wirkend, als er war, sich aber mit viel Willen aufrecht haltend, eine dicke Brille und eine sehr breite Glatze. Er lächelte zum Abschied.
    Der 11. September rückte näher. Jede Hoffnung, doch ein paar Tage oder Wochen meiner Haftzeit erlassen zu bekommen, hatte ich begraben. Von meinen Mitgefangenen verabschiedete ich mich nach und nach: „Bis später! Wir sehen uns hier bald wieder!“ Für mich war klar: Es würde nicht allzu lange dauern, bis ich mit den Gesetzen der DDR in Konflikt geraten und wieder in Bautzen auftauchen würde. Ich würde es niemals länger in

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