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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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naiven Eindruck, aber seine Geschichte war schon hart. Er erzählte mir, dass er bei einer Spezialeinheit der Armee zum Fallschirmjäger ausgebildet worden war. Irgendwann war er ausgeschieden und arbeitete zuletzt als Holzfäller. Sein großer Traum war es, Holzfäller in Kanada zu sein. Diesem Traum stand die Mauer im Wege, deshalb hat er sie überwinden wollen. Er hatte sich ein ca. 50 cm langes Fleischermesser besorgt und vor einem Bürohaus in Ostberlin einen SED-Parteisekretär in seine Gewalt gebracht. Mit der Geisel und seinem Fahrer wollte er in deren Barkas B 1000 den Durchbruch nach Westberlin erzwingen. Am Grenzübergang „Bornholmer Straße“ überwältigte ihn ein Spezialeinsatzkommando. 13 Jahre Haft.
    In Bautzen wurde ihm immer wieder übel mitgespielt. Es waren die vielen kleinen Dinge, die Hans, den bärenstarken Mann, der sich als psychisch sehr labil herausstellte, systematisch fertigmachten. Er saß zunächst in einer Einzelzelle. Ständig wurden seine Sachen durchwühlt, wenn er bei der Arbeit oder zum Freigang unterwegs war. Persönliche Sachen fehlten dann plötzlich, auch Fotos wurden „weggefilzt“. Wenn er sich beschwerte, landete er manchmal im Arrest. Einmal drehte er daraufhin durch und schlug die ganze Einrichtung seiner Zelle kaputt. Sie stellten ihn mit Spritzen ruhig; er wurde in die Krankenstation nach Bautzen I gebracht. Hans wurde immer nervöser und unberechenbarer. Ich hielt auf Arbeit und im Freihof lieber Abstand zu ihm, genauso wie Olaf, mein Zellenkollege, der sonst auch ganz gut mit ihm klargekommen war.
    Ich weiß nicht, wie die Anstaltsleitung auf die Idee gekommen war: Sie dachten sich wohl, Olaf und ich hätten ganz guten Kontakt zu ihm; wir würden einen positiven Einfluss auf ihn ausüben. Hans wurde in unsere Zelle verlegt. Unglaublich, welcher Gefahr sie uns aussetzten! Hans hatte doch das lautlose Töten ohne Waffen gelernt! Wir wurden benutzt und bewusst in Gefahr gebracht, weil sie selbst nicht mehr weiterwussten. Was folgte, war absehbar gewesen. Hans wirkte am frühen Abend ganz ruhig und fast normal; wir unterhielten uns über dies und das. Nachdem wir alle bettfertig waren und die letzte Zählung durch war, wurde das Licht zur Nachtruhe gelöscht. Ich war fast eingeschlafen, da hörte ich Hans, wie er aufstand und in der Zelle hin- und herlief. Er redete dabei mit sich selbst.
    „Da, am Fenster, da sitzt der Onkel. Neckermann ist auch dabei!“
    Draußen vor dem Fenster saßen zwei gurrende Tauben.
    „Die wollen mich holen. Ich muss vorsichtig sein.“
    Die Wasserrohre gluckerten. Im Waschbecken und im Klo. Nichts besonderes, das gehörte zum Nachtsound.
    „Jetzt schicken sie Gas! Ich muss was dagegen tun!“ Er holte Bekleidungsstücke aus seinem Schrank und stopfte sie ins Waschbecken und ins Klo.
    „So, nun kann nichts passieren. Mal sehen, was ihnen noch einfällt. Ich muss gewappnet sein. Ich muss mich bewaffnen. Ich bin bereit, wenn sie kommen.“
    Olaf und ich waren hellwach. Aber wir stellten uns beide schlafend. Bloß nicht bewegen!
    Hans ging zu seinem Schrank, holte eine Schere heraus und steckte sie in seinen Hosenbund.
    „So, jetzt sollen sie ruhig kommen. Wer weiß, wer noch alles mein Feind ist. Meine Mitgefangenen? Die liegen alle so ruhig da. Ich muss vorsichtig sein. Wenn einer aufwachen sollte …!“
    Spätestens in diesem Moment verspürte ich Todesangst!
    Bleib ruhig, nicht bewegen, kein Geräusch! Langsam und regelmäßig atmen. Hoffentlich geht das gut! Hoffentlich überleben wir das! Hans tigerte noch eine Zeitlang in der Zelle herum, brabbelte immer weiter in dem Stil. Zum Glück legte er sich irgendwann ins Bett und schlief ein. Keine Sekunde konnte ich in dieser Nacht schlafen. Den anderen beiden ging es genauso.
    Am nächsten Morgen versuchten wir alle, uns so unauffällig wie möglich zu verhalten. Wecken, Anziehen, Frühstück, Zählung. Wir bereiteten uns auf die Frühschicht vor. Nie habe ich so sehnsüchtig darauf gewartet, endlich runter zur Arbeit zu kommen. Hans konnte sich überhaupt nicht an das erinnern, was er in der Nacht zuvor gemacht hatte. Er blieb in der Zelle, weil er krankgeschrieben war. Wir anderen traten zur Arbeit an. Unten angekommen, erzählten wir den Wachleuten sofort, was vorgefallen war. Keiner von uns war bereit, nach der Schicht in die Zelle zurückzukehren, wenn Hans noch dort sein sollte. Noch so eine Nacht – eine Horrorvorstellung!
    Sie sträubten sich zunächst, aber tatsächlich wurde

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